Nostalgie und Aufbruch: Das alte und das neue Odessa

Nostalgie und Aufbruch: Das alte und das neue Odessa
Die Schwarzmeerstadt hat eine ereignisreiche Vergangenheit hinter sich. Heute lebt die ukrainische Stadt von kreativer Energie und einer jungen Szene.

Das erste Déjà vu-Erlebnis hat der Odessa-Novize beim Anblick des prachtvollen Opernhauses: Das sieht doch aus wie die Wiener Volksoper? Oder wie das Ronacher? Vertraut jedenfalls. Nun, der Besucher liegt nicht falsch, reichte das Betätigungsfeld der Wiener Architekten Ferdinand Fellner und Hermann Helmer weit über Österreich hinaus: Von Ungarn und Zagreb über Zürich und Hamburg bis Odessa.

Wer spontan beschließt, in die Oper zu gehen, wird sich fragen, ob das möglich ist: Karten für Mozarts „Don Giovanni“ kosten umgerechnet sechs Euro. Aber der Preis stimmt. Viele ältere Frauen stehen mit dem Einkaufskorb vom Markt an, um Karten zu bekommen. Sie gehen in die Oper, weil sie es sich leisten können.

Das zweite Déjà-vu folgt bei der Hauptsehenswürdigkeit der Stadt, der Potemkinschen Treppe. Die breite und lange Treppe mit zweihundert Stufen, die vom Hafen bis zum Primorskij-Boulevard mit der Statue des Herzogs von Richelieu hinauf führt, ist – zumindest für Kinoliebhaber – eine der berühmtesten der Welt. Sergej M. Eisenstein verewigte sie in seinem Historiendrama „Panzerkreuzer Potemkin“ aus dem Jahr 1925. Unvergessen die Szene, in der der Kinderwagen mit einem schreienden Kind die Treppe hinunterrollt. Unweigerlich schreitet man vorsichtig die Stufen hinunter, diese Bilder im Kopf. Hinauf geht es mit dem Funicular, einer Standseilbahn, die sich ächzend den Berg hinauf quält.

Erleben in Odessa: 3 Kurz-Tipps

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Museum für westliche und orientalische Kunst Skurril:
Alte Meisterwerke, kitschige Sowjetobjekte und moderne Exponate sind hier chaotisch gemischt. Berühmtestes Werk
ist ein Caravaggio, der 2008 geraubt wurde und sich beim Wiederauffinden in Berlin als Fälschung erwies. Auf „Die Festnahme Christi“ sind die Odessiter trotzdem stolz.

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Langeron-Strand  Der älteste öffentliche Strand Odessas wird vorwiegend von Einheimischen genutzt. Die Szenerie mit den in die Jahre gekommenen Strand- lokalen, den wackeligen Liegen und den Eisverkäufern erinnert an Nostalgie-Postkarten. Gleich daneben ist ein Delfinarium.

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Privoz-Markthalle Hier findet man alles, was das Schwarze Meer an Fischen und Meeres- früchten zu bieten hat. Dazu Obst und Gemüse in Überfülle. Die Ware ist auffällig adrett präsentiert, die Marktfrauen sind, nun ja: selbstbewusst bis ruppig. Nichts anfassen, unbedingt bedienen lassen!

Odessa ist eine überraschende Stadt. Eine Wundertüte, die sich dem öffnet, der sich auf sie einlässt. Dem, der nicht zuerst die bröckelnden Gebäude aus Sowjetzeiten in den Nebengassen, sondern die bunt renovierten klassizistischen Fassaden, die üppigen Stuckverzierungen, die Belle Epoque-Nymphen, die orthodoxen Zwiebeltürmchen, die vielen neuen Geschäfte und die lässigen Lokale sieht. Der sich am Abend, wenn der Primorskij-Boulevard oberhalb des Meeres zur Freiluftkonzert-Meile wird, auf einer Parkbank niederlässt und den Darbietungen der Musiker lauscht anstatt weiterzugehen. Der staunt, was sich auf der Deribasovskaja- und der Ekaterininskaja-Straße am Abend abspielt (gibt’s in Wien so eine Partymeile?) und schließlich vor einem gehaltvollen Drink im „The Fitz“ landet. Die Bar wird regelmäßig zur besten der Ukraine gewählt. Beim dritten Besuch, wenn man quasi Stammgast ist, bekommt man ein Polaroidfoto als Andenken geschenkt.

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Das „Fitz“ ist Ikone der Partystimmung in Odessa und wird ständig zur besten Bar der Ukraine gewählt. Stammgäste bekommen ein Erinnerungsfoto.

Odessa, 1794 von Zarin Katharina der Großen gegründet, war immer eine kosmopolitische Stadt: ein Zentrum des Handels, der südliche Hafen des russischen Reichs, das Tor vom Schwarzen Meer zum Mittelmeer und weiter nach Amerika. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Odessa eine reiche Stadt. Und nach Warschau war es die Stadt mit der größten jüdischen Bevölkerung in Europa. Italiener, Griechen, Russen, Türken und Deutsche prägten das Stadtbild der „Perle am Schwarzen Meer“. Sie alle haben Spuren hinterlassen: Schlendert man am Langeron-Strand entlang, erinnern die Schirme und Liegestühle an ein Strandbad in Rimini. Speist man im „Bernardazzi“ im Innenhof der Philharmonie, wähnt man sich in einem Palazzo in Mailand.

Das jüdische Odessa ist heute noch spürbar – in hervorragenden Restaurants wie dem „Gefillte Fish“ oder dem „Dizyngoff Restaurant“ mit seinem Räucherlachs-Gurken-Cheesecake, dem Shiitakepilz-Hummus und dem vorzüglichen Seebarsch-Sashimi. In den letzten Jahren sollen auch viele emigrierte jüdische Bürger aus Amerika zurückgekehrt sein.

Russische Intellektuellenaura

An Sowjetzeiten erinnert die Babuschka im Kassenhäuschen des Literaturmuseums. Sie hat es sich mit einem Häkeldeckchen auf dem Tisch, Fotos ihrer Lieben und einem Telefon aus UdSSR-Zeiten gemütlich gemacht. Sie lässt Strenge walten: Der Weg durchs Museum ist genau vorgegeben, Abschweifungen werden nicht geduldet. Der Besucher macht sich ein Bild von der Künstlerprominenz, die Odessa belebte. In einem altehrwürdigen Palais mit prachtvollem Park wandelt er auf den Spuren Anton Tschechows, Nikolai Gogols oder Alexander Puschkins, die von Moskau hierher flohen. Puschkin wurde in Odessa richtiggehend liebeskrank. Er verliebte sich unsterblich in die Gräfin Woronzow, unvorteilhafterweise Gattin des Gouverneurs von Odessa.

Die flammende Affäre nahm kein gutes Ende: Woronzow kam den Turteltauben auf die Schliche und sorgte dafür, dass Puschkin aus dem diplomatischen Dienst austreten und Odessa verlassen musste.

Am Abend zeigt die Stadt ihre unbeschwerte Seite. Verkäufer mit blinkenden Luftballons säumen die Strandboulevards, mobile Kioske verkaufen Souvenir-Krimskrams, Eis oder Waffeln, junge Leute tanzen zu musikalischen Darbietungen und Verliebte himmeln einander auf den Parkbänken an. Lebensfreude für Jung und Alt. Odessa ist die perfekte Mischung aus südlichem Flair, russischer Intellektuellenaura und europäischer Jahrhundertwende-Nostalgie.

Nur mit deutlich weniger Touristen als anderswo und mit moderaten Preisen. Man verlässt die Stadt mit Wehmut und wünscht sich, dass sie ihre außergewöhnliche, sympathische Aura noch lange behält. Und dass die Ukraine bald wieder ihren Frieden findet, auch wenn in Odessa vom Konflikt mit den Russen vierhundert Kilometer weiter im Osten nichts zu bemerken ist.

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