Wir brauchen eine Sterbekultur
Die Diskussion über assistierten Suizid und aktive Sterbehilfe steht im Spannungsfeld zwischen Gesetz und Selbstbestimmung, Staat und Einzelnem, Medizin und Menschenwürde. Die Rechtslage in Österreich gibt bereits einigen Handlungsspielraum: In der Palliativmedizin ist indirekte Sterbehilfe durch Therapien, die Schmerz lindern, aber lebensverkürzend wirken, zulässig. Patientenverfügung oder Vorsorgevollmacht ermöglicht passive Sterbehilfe durch Therapieabbruch, Verzicht auf Behandlung oder Wiederbelebung etc.
Nun beschäftigt sich der Verfassungsgerichtshof neuerlich mit der Frage, ob die Delikte Tötung auf Verlangen und Mitwirkung am Selbstmord im Strafgesetzbuch verfassungskonform sind.
Die Experten sind gespalten: Die Österreichische Bioethikkommission befürwortet eine Liberalisierung. Die Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie lehnt eine Änderung der Strafbestimmungen hingegen ab.
Befürworter bezeichnen aktive Sterbehilfe als Ultima Ratio, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind. In den Beneluxstaaten, Kanada und der Schweiz führten Gesetzesnovellierungen zu einem deutlichen Anstieg der Sterbehilfe. In keinem der genannten Länder änderten sich aber die Rahmenbedingungen für die Betreuung Schwerstkranker!
Rechtfertigungsdruck
Die Lockerung der Gesetze könnte aber kranke, pflegebedürftige oder alte Menschen unter Rechtfertigungsdruck setzen, warum sie von der Suizidbeihilfe keinen Gebrauch machen wollen und der Gesellschaft weiter zur Last fallen. Auch angesichts der steigenden Kosten für Pflege und Betreuung ist eine Liberalisierung höchst bedenklich. Sterbehilfe könnte sich in den Köpfen mancher unterschwellig als Mittel der Kostendämpfung etablieren. In Deutschland gehen 95 Prozent Schwerstkranker und Sterbender bei guter Palliativversorgung von ihrem vorzeitigen Sterbewunsch ab. Sie wollen primär nicht sterben, sondern nicht so weiterleben.
Die Gesellschaft sieht Kranke und Sterbende jedoch zunehmend als rein medizinisches Problem, für das entsprechend „technische“ Lösungen gesucht werden. Ein öffentlicher und offener Diskurs über Leiden, Sterben und Tod findet nicht statt. Diese fehlende Kultur des Todes, der Mangel an Expertise des Leids befeuert die Diskussion über aktive Sterbehilfe.
Der Seniorenbund lehnt eine Ausweitung der Sterbehilfe entschieden ab. Er sieht im Gegenzug den Gesetzgeber in zwei Bereichen gefordert: das in Österreich nur rudimentär vorhandene Palliativ- und Hospizsystem flächendeckend auszubauen und ein Pflegesystem zu schaffen, wo die Menschen sich auf die gesellschaftliche Solidarität bedingungslos verlassen können.
Ingrid Korosec ist Präsidentin des Österreichischen Seniorenrates und des Seniorenbundes.
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