Erneuerung ohne Zerstörung
Martina Salomon
19.10.22, 18:30Eine Kanzlerpartei unter Druck: Thomas Schmids Aussagen lasten wie Bleigewichte auf der ÖVP. Es sind Geständnisse eines Beschuldigten, der versucht, als Kronzeuge seine Haut zu retten. In einem Telefonat mit Sebastian Kurz unmittelbar nach dessen Abgang als Kanzler erklärte er schlicht das Gegenteil. Gerichte werden klären müssen, wo Schmid gelogen hat.
Und die ÖVP? Sie hat sich längst für eine türkise Häutung entschieden und kehrt zu ihren schwarzen Wurzeln zurück. Das muss kein Nachteil sein: Jetzt zählt Lösungskompetenz mehr als Glamour. Aber der Ruf der Partei ist angeknackst und das Profil verblasst – nicht nur durch das verheerende Sittenbild, das die Schmid-Chats offenbaren, auch durch die Koalition mit den Grünen. Der Kitt zwischen den Partnern besteht einzig und allein darin, dass beide nicht mehr sicher sein können, der nächsten Regierung anzugehören. Den viel zitierten „Charme“ hatte dieses Projekt ohnehin nie. Aber das unterscheidet es nicht von der rot-grün-gelben Ampelkoalition Deutschlands. Angesichts der brüchigen Welt ist es für eine Regierung auch ganz ohne Skandale schwer genug, stabil zu bleiben und Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen. Für die ÖVP kommt noch innere Zerrissenheit dazu, siehe die ohnehin notorisch schwache Wiener Landespartei: Setzt sich dort die (an Kurz angelehnte) Sachslehner-Linie durch: lautstarke Oppositionspolitik? Oder der Ruck-Kurs? Also Händchenhalten mit dem roten Bürgermeister? Bestimmen wie früher Länder und Teilorganisationen den Kurs mit Blick auf die nächste Landeswahl mit, oder gibt eine starke Spitze der bürgerlichen Partei Profil? Und wie kann sich die Volkspartei glaubhaft erneuern, um auch inhaltlich selbstbewusst und nicht nur mit dem Rücken zur Wand agieren zu können?
Bis zu einem rechtskräftigen Urteil in den Causen rund um die Person Schmid werden Jahre vergehen – unendlich viel Zeit für die Opposition, um alle Beschuldigungen ausgiebig zu zelebrieren. Es ist logisch, dass die SPÖ das Kanzleramt zurückerobern will – das ist schließlich der Sinn politischen Engagements. Doch die vom linken Spektrum herbeigesehnte Zertrümmerung bzw. Zersplitterung der ÖVP könnte „Kollateralschäden“ erzeugen. Der Zerfall der italienischen Democrazia Cristiana ebnete zunächst dem Rechtspopulismus in der Person von Silvio Berlusconi und heute den Nachfolgern der Postfaschisten den Weg. Die Linke spielt in Italien kaum noch eine Rolle. Es ist kein Zufall, dass auch in Österreich die FPÖ wieder erstarkt – ohne nennenswerte Beiträge zur Krisenbewältigung anbieten zu können. Wer immer in nächster Zeit das Land führt: Es sollten keine Glücksritter, Demagogen oder Blender sein. Man kann nur hoffen, dass buchstäblich die Vernunft regiert. Und dass Katharsis ohne Zerstörung möglich ist.
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