PRO
Das Leben ist zuletzt, verflixt noch mal, wie der Wunschtraum einer Gouvernante aus den 1950er-Jahren geworden: Licht aus (wegen des Russen)! Nicht mit allen Knutschen (wegen des Virus)! Urlaub in Österreich (wegen des Klimas)! Nicht gegen die Meinung der Altvorderen reden (wegen ... ach, einfach so)!
Es war schon mal mehr Spaß. Und wer zuletzt mit Trauer und Horror die schrecklichen Bilder aus dem Erdbebenkatastrophengebiet gesehen hat, der will ohnehin nur noch weinen.Es besteht der Mensch aber nun mal nicht nur aus Vernunft und Mitgefühl – und das ist auch okay so. Viele schwierige Phasen der Geschichten wurden von recht fetzigen Partys umrahmt, man feiert umso tiefgründiger, wenn die Welt dunkel ist.
Und ja, das gilt auch für eine Gesellschaft als Ganzes: Wer gemeinsam schwierige Aufgaben stemmen muss, der braucht auch gemeinsame Ventile, Momente, in denen Zusammengehörigkeit aufgebaut wird.
Einmal im Jahr äußert sich diese Zusammengehörigkeit in Österreich auf sehr lokal eingefärbte Art: Ein paar Hundert Menschen feiern in der Oper einen Ball, ein paar Hunderttausend Menschen schauen ihnen dabei zu, mit einer sehr österreichischen Mischung aus Spott und Neid. Es sind ein paar gemeinsame Stunden Muße von Leid und Krise. Die dürfen auch heuer Platz haben. Ihr müsst für euer Recht auf Party kämpfen, riefen dereinst schon die Beastie Boys. Und allem Anschein nach war da auch der Opernball mitgemeint.
Georg Leyrer leitet das Kulturressort.
CONTRA
Nein, Sie sollen wegen der tragischen Ereignisse der vergangenen Monate, dem Krieg in der Ukraine, dem verheerenden Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet, dem Hunger in der Welt, etc. nicht zu Hause sitzen und weinen. Das hilft auch keinem, das macht die Katastrophen nicht ungeschehen. Feiern Sie! Gehen Sie auf Bälle! Machen Sie es sich schön, es ist eh alles traurig genug. Aber: Das gilt für Sie als Privatperson.
Der Opernball als Bühne für die wichtigsten Akteure aus verschiedensten Gesellschaftsbereichen, vor allem aber der heimischen Politik, ist etwas anderes. Hier geht es um Repräsentanz – die Repräsentanz eines Staates, der in all dem Chaos vergleichsweise gut weggekommen ist. Eines Staates auch, der schon immer spitze darin war, wegzuschauen, wenn die Realität zu hässlich wurde. Und wo lässt es sich besser vor dem Weltgeschehen verstecken, als auf dem Roten Teppich, wo es nur darum geht, wer was trägt? Oder in den Balllogen, beim Schampus, die rot-weiß-rote Schärpe über die Brust gespannt.
Als politische Elite dieses Staates heuer auf den Opernball zu verzichten, wäre eine Chance gewesen: Man hätte zeigen können, dass sich etwas geändert hat – dass man sich zuallererst als Europäer fühlt, dass mit Krieg am eigenen Kontinent eine Grenze erreicht ist, ab der man nicht mehr weitermachen kann wie bisher. Es wäre ein klares Signal gewesen, dass man bereit ist, alle Konzentration auf ein Ende des Elends zu lenken statt auf den Dreivierteltakt.
Elisabeth Hofer ist Innenpolitik-Redakteurin
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