Stecken wir derzeit in einer Asylkrise?

Zuletzt hatte das Thema rund um Asyl wohl im Jahr 2015 seinen Höhepunkt. Seither war es relativ ruhig geworden. In den letzten Monaten hört man nun aber wieder öfter von dem Thema. Ob es um die steigende Anzahl von Aufgriffen an Österreichs Grenzen geht, die überlasteten Unterkünfte oder auch die Asylverfahren selbst. Ein Wort taucht aber immer wieder auf: Asylkrise.
Aber kann derzeit tatsächlich von einer "Asylkrise" sprechen?
PRO
Wir haben eine Asylkrise. Rund 100.000 Anträge von Flüchtlingen in einem Jahr, über 90.000 Personen, die bei uns in der Grundversorgung untergebracht sind, und fast 700 verhaftete Schlepper zeugen davon, dass die momentane Situation nicht anders bezeichnet werden kann. Wer das nicht zur Kenntnis nehmen will, der betreibt Realitätsverweigerung.
All jenen, die glauben, dass das Wort Asylkrise von der ÖVP bewusst ins Spiel gebracht worden ist, um so den schlechten Umfragewerten entgegenzuwirken, der sollte eine Woche an der burgenländischen Grenze verbringen. Dort mussten die Gemeinden bereits damit leben lernen, dass laufend Flüchtlinge von Schleppern mitten auf Hauptplätzen ausgesetzt werden. Selbst der verstärkte Einsatz von Polizei und Bundesheer hat die Situation bisher nicht gravierend ändern können. Und zur möglichen Parteitaktik der ÖVP: Derzeit profitieren vor allem die Freiheitlichen von besagter Asylkrise.
Es ist auch nicht so, dass die Krise nur darin besteht, dass es nicht genügend Unterkunftsplätze für Asylwerber gibt. Das würde ja bedeuten, dass alles gelöst wäre, wenn die Bundesländer – nicht nur Wien und das Burgenland – ihre Aufnahmequote erfüllen. Das allein wird aber nicht reichen, weil der Ansturm von Flüchtlingen über den Balkan nach Österreich weiterhin zu groß ist. Deswegen muss man es in Österreich deutlich ansprechen: Wir stecken in einer Asylkrise. Die EU sollte endlich erkennen, dass es ihr genauso ergeht.
Martin Gebhart ist Leiter des Ressorts Innenpolitik im KURIER
Martin Gebhart Profilbild
CONTRA
Ob Klima, Energie, Wirtschaft und oder auch noch immer Corona – all diese Sachen stellen für uns derzeit Krisen dar. Was sie alle gemein haben, ist, dass sie die Mehrheit betreffen, ihr Management die Willenskraft von Politik und Bevölkerung sowie kluge Lösungsansätze braucht.
Das Thema Asyl wird auch gerne in diesen Topf geworfen. Hört man so manchen Stimmen zu, könnte man glauben, Österreich wird gerade von Menschen überrannt – vor allem von gefährlichen jungen Männern. Da entsteht schnell mal der Eindruck, unser Land und seine Leitkultur ist in Gefahr; gefährdet von Menschen, die vor Krieg und Aussichtslosigkeit fliehen, in der Hoffnung, vom Recht auf Asyl oder subsidiären Schutz Gebrauch machen zu können. Doch wie sieht die Realität aus?
Derzeit sind 21.335 Asylwerber in Grundversorgung (rund 0,2 Prozent der Gesamtbevölkerung). Würde man über Medien und Politik nichts über das Thema hören, bezweifle ich, dass die meisten in Österreich davon überhaupt etwas mitbekommen würden. Denn betroffen sind hauptsächlich Menschen, die entweder selbst um Asyl ansuchen oder in dem Bereich arbeiten. Wenn wir von einer Krise sprechen wollen, sollten wir von der Unterbringungskrise sprechen und davon, dass Menschen teilweise in Zelten ausharren müssen. Oder von der Föderalismuskrise. Schließlich erfüllen die meisten Bundesländer nicht ihre Asylquoten. Das alles müsste in Österreich eigentlich gar nicht sein.
Naz Kücüktekin ist KURIER-Redakteurin bei Mehr Platz

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