PRO
Österreichs Neutralität ist eine Tochter ihrer Zeit. Nach Krieg und Besatzung bot sie den einzigen Weg in die staatliche Souveränität und Freiheit. In den vergangenen fast 70 Jahren hat sie sich so sehr bewährt, dass sie den meisten Österreicherinnen und Österreichern in Fleisch und Blut übergegangen ist. So, als ob es nie anders gewesen wäre oder etwas anderes denkunmöglich scheint. An der seit Jahren, vor allem von ÖVP- oder FPÖ-Seite angestoßenen Debatte, ob sich unsere Neutralität nicht längst überholt hat, haben sich seither noch alle Politiker die Zähne ausgebissen. Die Neutralität abschaffen – das ist hierzulande mittlerweile genauso unbeliebt wie sich ein Atomkraftwerk vor die Nase bauen zu lassen.
Und vor allem: Es wäre total unnötig.
Freilich, Österreich darf sich kraft seiner Neutralität nicht in zwischenstaatliche Kriege einmischen, darf kriegführenden Parteien keine Waffen liefern, keinen Militärbündnissen wie der NATO beitreten und keine fremden Militärbasen auf seinem Territorium dulden. Sind wird deshalb verlassen, allein und wehrlos, wenn uns ein Gegner angreift? Abgesehen von der Schweiz, die uns wohl eher kaum nach der Methode Putin erobern wird, sind wir umgeben von befreundeten EU-Nachbarn. Und sie schulden uns – obwohl wir neutral sind – laut EU-Vertrag (Art. 42, Abs. 7) „alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung“. Eine europäische Armee gibt es zwar noch nicht, aber alle unsere Nachbarn (eben bis auf die Schweiz – und Liechtenstein) sind NATO-Mitglieder.
Ist das feig, wenn wir uns darauf verlassen müssen, dass uns die anderen retten? Mag sein, aber Feigheit ist keine politische Kategorie. Realpolitik ist vielmehr, dass die EU uns mitsamt unserer Grundbedingung der „immerwährenden Neutralität“ als vollwertigen Partner aufgenommen hat.
Ingrid Steiner-Gashi ist EU-Korrespondentin des KURIER in Brüssel
CONTRA
Zu der Österreicher liebsten Illusionen zählt die Neutralität. Man könnte in ihr sogar – über die sicherheitspolitische Bedeutung hinaus – eine Art generelle Chiffre für das nationale Selbstbild sehen: In ihr bündelt sich viel von dem, wie wir gerne sein möchten oder glauben, von außen gesehen zu werden.
Das hat viel mit dem landestypischen manischen Schwanken zwischen Selbstüberschätzung und Minderwertigkeitsgefühl zu tun. Einerseits: die Rolle als Brückenbauer zwischen Ost-West, Nord-Süd, Links-Rechts und was sonst noch immer – hat ja schon der Kreisky gesagt …; andererseits: wer sind wir schon, auf uns kommt es doch nicht an (wobei: charmant und gemütlich sind wir natürlich schon, man muss uns fast lieb haben).
Im Ernst und jenseits der Klischees: Die Neutralität war 1955 der Preis der Freiheit. Punkt. Dass Österreich und Europa in den Jahrzehnten danach eine bis dahin ungekannte Periode des Friedens, der Sicherheit und des Wohlstands erlebt haben, verdankt sich nicht der Neutralität, sondern der NATO bzw. der durch diese gesicherten Präsenz der USA in Europa; gemäß dem Diktum des ersten NATO-Generalsekretärs, Lord Ismay, wonach der Zweck der Allianz darin bestehe, „die Amerikaner drinnen, die Russen draußen und die Deutschen unten“ zu halten (Letzteres unter dem Eindruck des NS-Terrors verständlich).
Seit Wolfgang Schüssels mutiger Lipizzaner/Mozartkugel-Vergleich zerzaust wurde, traut sich kein ÖVP-Politiker mehr über das Thema drüber; auch die FPÖ hat längst die Seiten gewechselt und tut so, als sei sie immerwährend für die Neutralität gewesen; von den Linksparteien gar nicht zu reden.
So bleiben wir neutral, wie wir auch atomenergiefrei bleiben und dabei Atomstrom importieren.
Rudolf Mitlöhner ist stv. Innenpolitik-Ressortleiter des KURIER.
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