PRO
Zwischen der Schlagerparade des jeweiligen Bundesländerradios, den gefühlten fünf Songs, die abwechselnd auf Ö3 liefen, und den anspruchsvollen Ö1-Opernanalysen auf FM4 zu stoßen, dürfte wohl für viele Jugendliche in den 90ern und Nullerjahren ein Erweckungserlebnis gewesen sein.
Mittlerweile gibt es Spotify, das verlässlich gute Musik vorschlägt und eine riesige Auswahl an Podcasts bietet. Was aber nicht bedeutet, dass es Angebote wie jenes von FM4 nicht mehr bräuchte. Denn der Algorithmus erzählt nix über Künstlerinnen und Künstler, führt keine Interviews und liefert keine Kritiken. Gute Playlists wollen kuratiert werden, und die vielen Podcasts muss auch wer erstellen. Womit wir wieder bei FM4 wären, das genau das bereits tut – soweit eben erlaubt.
Zu alt sei der Sender geworden, wird kritisiert. Das kann an den Inhalten liegen oder am Gefäß. Junge Menschen wollen sich in der Regel nicht von einem Sendeschema den Tagesrhythmus diktieren lassen. Dass man einen ORF-Podcast aus rechtlichen Gründen nur 30 Tage lang abrufen kann, dürfte für viele von ihnen ähnlich seltsam wirken wie die Vorstellung, pünktlich um 20.15 Uhr vor dem Fernseher sitzen zu müssen, um die Mordszene im „Tatort“ nicht zu verpassen. Wer Menschen erreichen will, die nach Lust und Laune ganze Serien- oder Podcaststaffeln durchbingen, muss Inhalte in entsprechender Form anbieten (dürfen) – womit die Politik gefordert wäre.
Aber bei FM4 geht es ja nicht nur um die Jugend, sondern – im Sinne des öffentlich-rechtlichen Auftrags – auch um die Förderung der heimischen Musikszene. Die Hochkultur hat ein breites Angebot auf ORFIII und Ö1, Popmusik auf Ö3 und aus irgendeinem Grund läuft in der ORF2-Primetime Volks-Rock’n’Roll. Daneben muss selbstverständlich auch die Subkultur eine würdige Plattform haben.
Nina Oberbucher Die Autorin ist Medienredakteurin.
CONTRA
Das Jahr 1995 war aus mehrerlei Hinsicht bemerkenswert: Bei den MTV Video Music Awards wurden neben Michael Jackson auch alternative Acts wie der Rapper Dr. Dre (heute Milliardär) und die Punkband Green Day ausgezeichnet. Die Goldene Palme von Cannes ging an den Film „Underground“ von Emir Kusturica. Der popkulturelle Mainstream hatte Konkurrenz in zahlreichen Beibooten bekommen. Auch im Radio: Am 16. Jänner 1995 ging FM4 on air und bildete fortan die Heimat der Nische: Montagabend Britpop, Dienstag House, Mittwoch Rock, Donnerstag Hip Hop ... sie sehen den Punkt. In einer immer komplexeren Welt wurde FM4 zum Kompass. Jede Szene fand ihre Bühne.
Schnitt auf 2021: Man kann das Wort „Alternative“ vor und zurück buchstabieren, es wird dennoch nicht mehr dieselbe Bedeutung haben. Popkulturelle Bedeutungseinheiten sind heute in noch mehr Sparten unterteilt. Und die Transmissionsriemen gänzlich andere: Wer heute ein Album auf den Markt bringt, ist vom Airplay eines mittelgroßen Senders nur mehr mittelmäßig abhängig, denn die Künstlerinnen und Künstler sind heutzutage ihr eigener wichtigster Werbekanal. Und die Albumverkäufe sind auch kein Kriterium mehr, seit Streamingdienste das Mittel der Wahl der Fans sind.
Wofür braucht das Land also noch einen Sender, der sich die ehrenwerte Aufgabe gesetzt hat, Bereiche ans Licht zu befördern, die sonst in dunklen Ecken angesagter Clubs unentdeckt geblieben worden wären?
Nischiger als heutzutage wird es nicht mehr. Und das hat vor allem damit zu tun, dass sich einzelne Szenen heute um andere Lagerfeuer tummeln. Und zum Hören bleibt ohnehin keine Zeit. Wir haben schließlich Spotify, Instagram und Podcasts. Man muss konzedieren, dass FM4 seine Mission übererfüllt hat.
Philipp Wilhelmer leitet die Debatte im KURIER.
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