Pomp-Füneberer
Martina Salomon
19.09.22, 18:18Paradox ist es schon: Da stirbt mit Michail Gorbatschow ein Mann, der (wenn auch unbeabsichtigt) das Weltgefüge wirklich verändert hat – und keinen kümmert’s so wirklich. Wegen der Anti-Russland-Stimmung wohnte dem Begräbnis kaum westliches Spitzenpersonal bei.
Und dann stirbt die Queen, die außer Zeremonien, bunten Kostümen, Disziplin und Diskretion nicht viel gestaltet hat – und die ganze Welt ist außer sich. Ist das nicht alles viel zu viel? Yes, indeed!
Was haben wir in der Redaktion diskutiert, ob die Berichterstattung über den doch erwartbaren Tod der englischen Königin nicht zu umfangreich ist! Andererseits: Gibt es irgendein Land, das ein zum Welt-Ereignis stilisiertes Begräbnis so pompös und so brillant inszenieren könnte, ohne dass es jemals eine echte Probe geben hätte können? Hunderte Millionen Menschen haben zugeschaut. Diese einzigartige militärische Buntheit! Die Würde der fast schlichten Messe! Die Riesen-Familie, die man nicht nur wegen der Serie „The Crown“ bis in alle Einzelheiten zu kennen glaubt! Und den Besuch von 500 Staatsgästen muss man auch erst einmal so perfekt orchestrieren. Das Empire hat sich noch einmal von seiner glanzvollsten Seite gezeigt – und man muss neidvoll zugeben: Das können die Briten. (So wie sich im Zuge der traurigen, dennoch unterhaltsamen Brexit-Debatten im Unterhaus jeder Vergleich mit anderen Parlamenten erübrigte. Order!!!!)
Vielleicht liegt die Faszination auch daran, dass kaum jemand eine Zeit ohne diese Queen erlebt hat. Ganz sicher nehmen wir alle von einer ganzen Epoche Abschied. Das kollektive Zuschauen könnte natürlich auch eine Flucht vor der schwierigen Gegenwart sein. Und, ja, Charles wirkt, wie man sich einen König schon immer vorgestellt hat, doesn’t he?
Hat die Queen vielleicht zeitlebens doch nicht nur mit Broschen, Hüten und Kostümfarben versteckte politische Signale gesendet, sondern auch politischen Einfluss hinter den Kulissen genommen? Nobody knows. Immerhin gab es ja mit jedem Regierungschef und jeder Regierungschefin einen wöchentlichen Jour fixe, pardon, natürlich eine Audienz – seit 70 Jahren.
Ab jetzt wenden wir Medien uns wieder den weniger glamourösen Geschichten zu, versprochen. Wobei: Heimlich interessieren sich wohl weiterhin viel mehr Menschen für das Schicksal der britischen Königsfamilie als für Inflation, Lieferkettenprobleme, jahrzehntelang versprochene Bildungsreformen, Metaller-Gehaltsverhandlungen und Pro & Contra vierte Impfung. Gestern hat England noch einmal der Welt gezeigt, was das Empire kann, warum scheinbar überkommene Traditionen leben, und warum wir das Königreich in Europa lieben. Dieses Begräbnis war ein Jahrhundertereignis.
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