Gefährliche Aufmerksamkeit

General Debate of the 80th Session of the UN General Assembly
Die Weltöffentlichkeit adelt die Unwahrheiten von US-Präsident Donald Trump zu ernst zu nehmenden Debattenbeiträgen. Das ist unerträglich.
Christoph Schwarz

Christoph Schwarz

Die Stärke einer funktionierenden Gesellschaft liegt darin, verschiedenen Meinungen und Argumenten Raum zu geben, Debatten zu fördern, Widerspruch zu ertragen. (Qualitäts-)Medien spielen dabei eine entscheidende Rolle. Was aber, wenn einer der Akteure gar keine echten Argumente mehr bringt, sondern den Diskurs mit Lügen, Propaganda und Verschwörungstheorien zu zerstören versucht? Wir würden ihn wohl anfangs skeptisch beäugen, uns kritisch mit ihm auseinandersetzen – irgendwann aber einsehen müssen, dass unsere Versuche nicht fruchten, sondern er die Debatte vergiftet. Und ihm zunehmend unsere Aufmerksamkeit entziehen.

Das hat nichts mit Zensur oder Cancel Culture zu tun. Die Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut. Ihr Ziel ist es, zu garantieren, dass jeder seine Ansichten äußern kann, ohne staatliche Verfolgung und Unterdrückung fürchten zu müssen – sie schließt aber nicht das Recht mit ein, dass einem andere um jeden Preis bei jedem Unsinn zuhören müssen. Sie endet vor allem dort, wo sich ein Redebeitrag nicht mehr als Meinung und schon gar nicht als Argument qualifiziert. Wenn jedem Unsinn im Bemühen um Objektivität Raum gegeben wird, führt das rasch zu falscher Ausgewogenheit.

Trumps Rede vor der UN-Vollversammlung

Was aber, wenn der Akteur, der die Debatte vergiftet, einer der mächtigsten Menschen der Welt ist? US-Präsident Donald Trump – und auch seine Epigonen in Europa – stellen Gesellschaft und Medien derzeit vor genau diese Frage. Wir haben bis jetzt keine Antwort gefunden. Trumps Rede vor der UN-Vollversammlung war ein Höhepunkt in seinem Vernichtungsfeldzug gegen Wahrheit und Wissenschaft. 

Die offensichtlich erlogenen Aussagen im Detail wiederzugeben, ist frei von Sinn. Und hätte sie jemand anderer als er getätigt – wir hätten ihm längst aus gutem Grund den Rücken gekehrt. So aber lauschten Staatsführer aus 193 Ländern rund 45 Minuten lang artig, statt den Raum zu verlassen. Dass mancher im Nachgang versuchte, die Aussagen noch argumentativ einzuordnen, adelt das Gesagte fälschlicherweise zum ernsthaften Debattenbeitrag. Trumps Strategie trägt den Fachausdruck „Flooding the Zone with Shit“. Noch nie musste man das wortwörtlicher nehmen als jetzt. Trump überflutet die Debatte mit Halb- und Unwahrheiten, bis es unmöglich wird, Fakt und Fiktion zu unterscheiden. Dass wir zulassen, dass er die Grenze des Sagbaren, das wir als erträglich erachten, immer weiter verschiebt, ist brandgefährlich.

Vor allem, weil er den Worten Taten folgen lässt: Er setzt das US-Militär im Inland ein; maskierte Beamte verhaften Menschen auf den Straßen; Medien werden geklagt und bedroht, Gelder für Wissenschaft und Humanitäres gestrichen. Unklar, ob das, was da zerstört wird, von seinen Nachfolgern repariert wird oder werden kann. Vier Jahre dauert Trumps Amtszeit. Es sind erst acht Monate vergangen.

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