Österreich darf nicht Ungarn werden
Die wahre Herausforderung sind die Millionen Flüchtlinge, die noch nicht da sind
Täglich neue Bilder von der griechisch-mazedonischen Grenze, wo auch Dutzende Polizisten der Menschenmassen nicht mehr Herr werden. Alle haben nur ein Ziel vor Augen: das gelobte Land Deutschland. Auf dem Weiterweg durch Serbien, das sie bisher passieren ließ, bahnt sich eine humanitäre Katastrophe an. Die Flüchtlinge müssen trotz heftigem Regen im Freien und Schlamm übernachten. Seit zehn Tagen schwillt der Zustrom auf der Westbalkanroute immer mehr an. Denn Mitte kommender Woche soll nicht nur der ungarische Grenzzaun zu Serbien total dicht sein. Jedem, der dennoch die Grenze nach Ungarn passiert, droht Orban künftig Gefängnis an. Österreich ist für die meisten nur ein Zwischenstopp auf dem weiteren Weg nach Norden. Hinter den Kulissen laufen daher die Telefone zwischen München, Berlin und Wien heiß. Die Kernfrage, die Politiker in ganz Europa zunehmend besorgt umtreibt: Macht sich Europa so als rettender Hafen auch für jene immer mehr attraktiv, die zu Millionen in der Türkei, im Libanon oder in Jordanien in riesigen Flüchtlingslagern darben? Antworten darauf waren von der gestrigen Regierungsklausur in Wien nicht zu erwarten. Hierzulande geht es primär darum, die heuer erwarteten 80.000 Asylwerber anständig zu versorgen und denen, die bleiben, eine Perspektive zu bieten. Das allein ist eine gewaltige Herausforderung
Schlüssel im Exodus-Drama liegt in Damaskus
Seit der Tragödie der 71 erstickten Flüchtlinge auf der Ostautobahn prägt eine Welle der Hilfsbereitschaft das öffentliche Bild. Die unbedingte Pflicht zur Humanität wagt niemand offen in Frage zu stellen. Hilfe für alle, die zu uns kommen, bleibt das erste Gebot. Damit die Stimmung nicht kippt, braucht es aber dringend ein Bündel an Maßnahmen auf internationaler Ebene: Dass der UNO das Geld für Nahrungsmittel und Wasser in den Flüchtlingslagern vor Ort rund um Syrien ausgeht, ist ein Skandal, der öffentlich klar zu benennen und zu beheben ist. Es ist politisch höchst unappetitlich, aber Syriens Präsident Assad gehört bei Gesprächen über eine Befriedung des Konflikts mit an den Tisch – auch wenn er selbst nicht Teil der Lösung sein kann. Österreich kann hier keine andere Rolle spielen als sich als Gastgeber anbieten – wie zuletzt von Außenminister Sebastian Kurz im Iran unausgesprochen insinuiert. Der Schlüssel dafür, dass aus dem Exodus-Drama 2015 nicht eine humanitäre Katastrophe wird, liegt nicht in Brüssel, Berlin, Budapest oder Wien. Er liegt in Damaskus, Washington, Moskau, Teheran und bei anderen lokalen Potentaten. Die größte Herausforderung für Europa sind nicht die Migranten, die schon da sind oder gerade kommen. Viel drängender ist es, die Menschen in den Flüchtlingslagern rund um Syrien davon abzuhalten, sich auch auf den Weg nach Europa zu machen. Der Bürgerkrieg dauert bereits so lange wie der Erste Weltkrieg. Wenn die Menschen alle Hoffnung fahren lassen, dass er ein Ende nimmt, werden neue Fluchtbewegungen alles in den Schatten stellen, was wir dieser Tage erleben.Das kann auch niemand wollen, der die humanitäre Haltung, "Willkommen Flüchtlinge", glaubwürdig lebt. Dann wird ganz Europa zu Ungarn werden. Dann werden in der EU bald nur die Orbans, Le Pens und Straches das Sagen haben.
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