Ersticken auf der Autobahn – na und?

Je mehr Gutwillige die Hassposter übertönen, desto mehr Politiker werden Courage für Flüchtlinge zeigen.
Josef Votzi

Josef Votzi

Je mehr Gutwillige die Hassposter übertönen, desto mehr Politiker werden Courage für Flüchtlinge zeigen

von Josef Votzi

über die Tragödie der 71 Toten in Parndorf

Donnerstagmittag: Die Nachricht von "bis zu 50 toten Flüchtlingen", gefunden in einem Lkw auf der A4, ist nicht einmal eine Stunde alt. In den sozialen Netzwerken toben sich bereits die ersten Poster aus: "Wären s’ daheim geblieben..." – "Wären sie nicht geflüchtet!!!!!kein mitleid!!! –"Weiter so bravo" – "Leider nur 50! 500 oder 5000 wäre besser". – "Kismet." – "Selbst schuld." Am Ende waren es 71 Menschen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Mord. Ertrinken im Mittelmeer, ersticken auf der A4? "Kismet", "Selbst schuld"? Erst erstickt die Menschlichkeit in der Sprache, dann ersticken die Menschen. Kein Thema polarisiert mehr als die Völkerwanderung der Verzweifelten. Auf der Bühne der öffentlichen Welt dominieren Betroffenheit und Anteilnahme an der Tragödie von Parndorf. In der scheinbar geschützten Welt der Anonymität des Internets entladen sich weiter ungebremst Hass, Frust und Angst. Hilft gegen kalte Ignoranz ein herzhaftes "Kusch", wie es jüngst einem TV-Moderator auf Facebook entfuhr?

Das Gefühl der Bedrohung, Angst vor "Überfremdung" macht sich auch jenseits der Welt der Hassposter breit. Die Tausenden Toten im Mittelmeer waren weit weg; die 71 toten Flüchtlinge wurden vor unserer Haustüre gefunden – am Weg aus der Kriegshölle, in Erwartung von Schutz und Hilfe. Geht nach dem Flüchtlingsdrama von Parndorf nicht nur ein Ruck durch die Politik, sondern auch durch die Gesellschaft? Macht sich nun ein empathischerer Blick auf die neue Völkerwanderung breit: Vertrieben von Krieg und Terror in der Heimat, statt getrieben von der Aussicht auf die soziale Hängematte in Europa?

Wer mit Flüchtlingen lebt, hat weniger Angst

Ein erster Rundgang in den sozialen Foren macht wenig Hoffnung. Wir alle müssen öffentlich mehr Klartext miteinander reden: Wer kommt und warum; was wird aus ihnen und uns? Fakten, Fakten, Fakten statt Emotionen, Emotionen, Emotionen. Der KURIER versucht, dem – einmal mehr – auch in dieser Sonntag-Ausgabe mit einem zehn Seiten umfassenden Info-Paket aus Reportagen, Porträts und Interviews nachzukommen.

Wenn die Hassposter nicht mehr den Blick auf die Heerscharen der Gutwilligen verstellen, werden auch die Politiker mehr Courage zeigen. Denn "die EU, die endlich mehr tun soll", ist kein Büro in Brüssel. "Die EU" ist niemand anderer als wir alle. Viele Gemeinden leben die Integration vorbildlich vor. Nicht ein Politiker, sondern Hans Peter Doskozil, der seit der Tragödie von Parndorf österreichweit als nüchterner Praktiker geläufig ist, plädiert mit Nachdruck für "mehr Überzeugungsarbeit". Denn, so der burgenländische Polizeichef im KURIER-Interview, "in jenen Gemeinden, wo Flüchtlinge bereits längerfristig untergebracht sind, sind die Vorbehalte geringer als dort, wo es überhaupt keine gibt."

Bei vielen Antworten auf die neue Jahrhundert-Herausforderung stehen wir alle erst am Anfang. Eine darf aber nicht zur Norm werden: Ertrinken im Mittelmeer, ersticken auf der Ost-Autobahn – na und?

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