Die Kritik an der Türkei hat Pause

Europa braucht Hilfe zur Bewältigung des Flüchtlings- stroms. Ankara lässt sie sich teuer abkaufen.
Andreas Schwarz

Andreas Schwarz

Das klingt nach zynischem Geschäft. Und ist in Wirklichkeit Realpolitik.

von Andreas Schwarz

über die EU, Flüchtlinge und die Türkei

So schnell kann es gehen. Vor ein paar Wochen noch stand der türkische Präsident in der heftigen Kritik aus Brüssel und anderen EU-Hauptstädten, weil er den Friedensprozess mit den Kurden aufkündigte und sein Militär gegen die PKK losschickte. Im April verurteilte halb Europa den Völkermord an den Armenieren vor 100 Jahren explizit als "Völkermord", was die Türkei u. a. mit Botschafterabberufungen (etwa aus Österreich) quittierte. Und die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei liegen auf Eis, vor allem wegen der trüben Menschenrechtslage in Erdogan-Land.

Ein paar 100.000 Flüchtlinge später, die über die Türkei nach Westeuropa gekommen sind, ist alles anders.

Die Europäische Union verhandelt mit Ankara, die Visapflicht für Türken früher zu streichen als geplant. Sie wird ein paar neue Kapitel in den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei eröffnen. Sie wird viel Geld zahlen (die Rede ist von zwei Milliarden Euro). Und sie wird Recep Tayyip Erdogan wieder als Gast – und freundlich – auf EU-Gipfeln empfangen. Dafür soll die Türkei verhindern, dass der Flüchtlingsstrom weiter nach Europa zieht.

Das klingt nach zynischem Geschäft. Und ist in Wirklichkeit Realpolitik.

Denn ohne die Hilfe der Türkei wird Europa der Flüchtlingswelle nicht Herr werden. Jetzt schon sitzen 2,2 Millionen in der Türkei, von denen viele mangels Rückkehrperspektive nach Syrien weiterziehen wollen. Die Türkei hat das bisher weitgehend allein geschultert. Jetzt lässt sie sich weiteres Schultern – stärkere Grenzsicherung, neue Flüchtlingslager für weitere Hunderttausende, möglicherweise auch Hotspots zur kontrollierten Verteilung nach Europa – teuer abkaufen. Die Kritik an der Türkei hat dafür Pause.

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