Kiew hat das Recht auf Selbstverteidigung

Stefan Schocher

Stefan Schocher

Europa steht heute vor einem beispiellosen Stellvertreterkrieg

von Stefan Schocher

über die Eskalation in der Ukraine

Man kann der ukrainischen Übergangsregierung viel vorwerfen: dass sie chaotisch vorgeht, dass sie sich aus alten Eliten zusammensetzt, dass sie schwach und nur zu einem gewissen Grad legitim ist. Aber was man nicht kann, ist einem Staat vorzuwerfen, sein Territorium zu verteidigen. Wenn Bewaffnete ohne Hoheitsabzeichen Städte und Orte übernehmen und ganze Landstriche als eigenes Gebiet beanspruchen, zugleich aber eine klare Mehrheit der lokalen Bevölkerung für den Erhalt der territorialen Integrität eintritt – und das ist im Donbass nach wie vor der Fall –, hat ein Staat die Verpflichtung gegenüber seinen Bürgern, aktiv zu werden.

Für Kiew wird in der Ostukraine die Zeit knapp. Zugeständnisse seitens der Übergangsführung (Föderalisierung, Abstimmung über den Verbleib bei der Ukraine parallel zur Präsidentenwahl, Minderheitenrechte) haben keinerlei Wirkung gezeigt. In weniger als einem Monat sollen Präsidentenwahlen stattfinden, und wenn diese Wahlen repräsentativ sein sollen, müssen sie auch im Osten der Ukraine flächendeckend funktionieren. Kiew braucht diese Wahl so früh wie möglich – weil sich die Führung von dem Vorwurf befreien muss, keine Legitimität zu besitzen. Zugleich wollen Separatisten im Osten Kiew zuvorkommen und bereits am Sonntag in einer Woche ein Referendum über die Loslösung von der Ukraine abhalten. Mit einer Zielrichtung: Beitritt zu Russland.

Welchen Einfluss auch immer Moskau auf derartige Bestrebungen hat: Wenn Moskau ehrlich versuchen wollte, einen Krieg in der Ukraine zu verhindern, müsste es solchen Bestrebungen eine klare Absage erteilen und alle Kanäle nutzen, um Aufständische dazu zu bewegen, ihre Waffen niederzulegen – tut es aber nicht.

Halsstarrige Mantras von der illegitimen, faschistoiden Führung in Kiew, die bedingungslos zurücktreten müsse, sind da in keiner Weise förderlich. Oder das Lied, vom Selbstbestimmungsrecht der Völker – ein Recht, das Moskau vor allem dann erkennt, wenn es dem Erhalt oder der Ausdehnung der eigenen Einflusssphäre dienlich ist. Moskau muss endlich einsehen, dass die Ukraine keine russische Provinz mit besonderem Autonomie-Status ist, sondern ein Staat, dessen Abgleiten in einen womöglich langen Bürgerkrieg auch Russland nicht gelegen kommen kann. Zugleich muss auch die EU endlich zu einer geschlossenen, harten, aber zugleich konstruktiven Linie gegenüber Russland finden und sich dem Scharfmacher-Getöse der USA entziehen. Konkret: Die EU muss ihre politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland gründlich überdenken – und sich mittelfristig aus der Energieabhängigkeit von Russland bewegen. Denn die Frage lautet: Kann eine Partnerschaft mit Russland unter den gegebenen Umständen überhaupt möglich sein? Europa steht heute vor einem beispiellosen Stellvertreterkrieg zwischen Ost und West mit enormem Potenzial, auszustrahlen. Nicht weniger als das gilt es jetzt und sofort zu verhindern.

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