wunder WELT: Über die jüdische Mehrheit
Im zweiten Bezirk, nicht weit von mir, gibt es eine jüdische Bäckerei. Nämlich die von Ohel Moshe in der Lilienbrunngasse. Man kann dort auch Kaffee trinken, was ich gestern tat. Dazu aß ich Rugelach, das sind so süße kleine Schokoladen-Hörnchen. Später nahm ich ein Burek dazu und eine Packung Nero. Ich bin zwar kein Jude, also nicht im orthodoxen Sinne, aber ich fühle mich in ihrer Gesellschaft wohl. Der zweite Bezirk war vor Jahrhunderten das Judenghetto. Auch heute leben die meisten Wiener Juden hier, die unauffälligen, modernen, die aussehen wie Du und ich, und die orthodoxen. Man sieht ziemlich viele davon herumlaufen, mit dieser seltsamen Kleidung. Das fällt schon auf. Die riesigen schwarzen Pelzhüte, die Bärte, die langen schwarzen Mäntel. Als ich neu war in dem Viertel, dachte ich deswegen sogar, die Mehrheit sei jüdisch. Eben weil einem diese kuriose Tracht so ins Auge sticht. Ich freute mich so sehr über jeden Einzelnen dieser filmreifen Mitbürger, dass ich nicht anders konnte, als sie zu grüßen. Sie sahen dann meistens befremdet zurück. Inzwischen gehe ich lieber in die Bäckerei Ohel Moshe: Hier darf ich seelenruhig beobachten. Die ganze Einrichtung ist äußerst solide, wie selbst entworfen, ohne jedes Design. Auch ohne Werbung, ohne Sonderangebote. Undefinierbare graue Säcke stehen in den Regalen. Von der Decke fällt fahles Neonlicht auf den Kachelboden. Ein junges Mädchen mit freundlichen, funkelnden Augen bedient. Das ist Golda. Weiße Zähne und schwarze glänzende Haare. Kinder kommen herein und lachen. Sie tragen lange schwarze Faltenröcke, darüber schwarze, gepolsterte Anoraks. Und schwarze Gummistiefel. Manchmal kommen Herren, immer im dunklen klassischen Anzug, mit Krawatte, Bart und diesem Hut. Einer lächelt fein in meine Richtung. So einen Hut kaufe ich mir jetzt auch! Dann ist der Anfang gemacht …
joachim.lottmann(at)kurier.at
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