wunder WELT: Gehstock

wunder WELT: Kreislauf
Joachim Lottmann über teure Geschenke, kleine Lügen und Nachbarschaftshilfe.
Joachim Lottmann

Joachim Lottmann

Kürzlich hat sich mein Verleger den schönen Scherz erlaubt, mir einen silbernen Stock zu schenken. Also, der Griff war massiv silber, der übrige Stecken aus feinem, schlankem, dunklem Ebenholz. Sehr schick, sehr elegant, ideal für theatralische Auftritte aller Art als seriöser Schriftsteller, auch als einer in jungen Jahren. Natürlich habe ich das Ding sofort wieder verloren. Beim Öffnen des Briefkastens vergaß ich das 800-Euro-Geschenk einfach im Hausflur. Wie ärgerlich! Der arme Verleger! Ich brachte sofort einen Zettel an. Um die Leute zu rühren, erfand ich eine kleine Lüge und schrieb: "Großvater hat seinen geliebten Stecken verloren! Bitte melden bei . . ."

Es tat sich nichts. "Verdammt", sagte ich zur Maria, "800 Euro, wir dürfen nicht aufgeben." Ich baute die Großvater-Lüge weiter aus, schrieb einen längeren Zettel. Der alte Herr traue sich nicht mehr aus dem Haus und so weiter.

Tage später stand tatsächlich eine Nachbarin aus dem Hinterhaus vor der Tür, sieben alte Stecken umklammernd. Man hatte für "Opa" gesammelt! Mehrere Nachbarn hatten diverse Stecken ihrer Verstorbenen abgegeben.

Das sah echt grauenvoll aus.

"Wo ist Opa?", fragte die Frau als Erstes. Sie wollte die "kostbaren" Gehhilfen selbst überreichen. Sollte ich sagen, ICH sei Opa? Sie hätte es nicht geglaubt.

Die Maria machte erstmal einen Kaffee. Wir sprachen über Bücher. Schließlich hob ich die Stimme: "Mein alter Herr wird sich über dieses beispiellose Zeichen nachbarschaftlicher Solidarität freuen. Leider ist er wieder abgereist. Wir werden ihm die Stecken nachsenden lassen."

Ich habe das silberne Statussymbol dann noch einmal gekauft. Es bleibt für alle Zeiten innerhalb unserer schönen Wohnung im Vorderhaus und wird nur benutzt, wenn der Verleger zu Gast ist.

joachim.lottmann(at)kurier.at



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