wunder WELT: Erinnerungsideologie

wunder WELT: Erinnerungsideologie
Joachim Lottmann über den jüdischen Komponisten Walter Arlen, der nach Wien kam, um ein Ehrenzeichen zu erhalten.
Joachim Lottmann

Joachim Lottmann

Noch immer muss ich an Walter Arlen denken, den jüdischen Komponisten, der letzte Woche Wien besuchte, um ein Ehrenzeichen zu bekommen. 1938 hatten ihm die Nazis übel mitgespielt. Jetzt, mit 91 Jahren, erzählte er im Volkstheater über seine Jugend in 16. Bezirk. Er machte das so unwiderstehlich wienerisch-unterhaltsam, dass man den Buben von damals zu hören glaubte. Dummerweise saß eine politisch korrekte Moderatorin mit am Tisch. Mit leiernder Stimme fragte sie nach der Erinnerungsarbeit des alten Herrn. Welche Bedeutung für ihn die Erinnerung habe. Ob man nur dann eine Zukunft habe, wenn man die Vergangenheit endlich korrekt erinnere. Walter Arlen sah kurz zu der spinnerten Frau und erzählte einfach weiter. Sein ganzes Leben, die erschütternden Momente, das Eindringen der Nazis in das Elternhaus, die Arisierung, die Gewalt, die Selbstmorde, das KZ. Seine Stimme blieb wienerisch, das Gesagte traf ins Mark. Einige Frauen und sogar ein Mann begannen zu weinen. Die überkorrekte Interviewerin keinesfalls. Sie unterbrach Walter Arlen. Ob das spezifisch Erinnerte in den verschiedenen Jahrzehnten unterschiedliche Färbungen annahm, und wenn ja, welche. Und ob es für das Erinnern besondere Komponenten gebe. Und ob die getane Erinnerung eine andere sei, als jene, die . . . und so weiter. Da stöhnte der Geehrte kurz auf und sprach lieber rasch weiter. Immer wieder fiel ihm die Erinnerungsspezialistin ins Wort, aber er ließ sich nicht mehr verrückt machen. Das Gesagte war schrecklich, weil es so ganz und gar menschlich war, leuchtend, frisch, wie gerade erst geschehen, und verblüffend. Selbst das Grausamste erschien wie eine Anekdote. Nur die neudeutsche Erinnerungsideologie passte dahin wie ein Kropf an den Hals. Ich dankte innerlich Walter Arlen, dass er einfach nicht darauf einging. Was für ein wertvoller Abend.joachim.lottmann(at)kurier.at

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