wunder WELT: Besuch beim Frisör
Heute war ich wieder bei meinem Herrenfrisör in einer kleinen, uralten Gasse in der Leopoldstadt. Das Haus stammt von 1663, der Raum ist winzig. Älter und uriger könnten selbst die Katakomben im Ersten Bezirk nicht anmuten. An der Tür hängt ein Foto des Ladens aus dem Jahr 1877. "Sepp Haar, Friseur" steht darauf. Kaum zu glauben, eigentlich. Selbst die Tür ist noch dieselbe wie damals, auch ebenso dunkel gestrichen. Im engen schlauchartigen Raum drängen sich zehn Männer, und die Stimmung ist bombastisch. Wie beim Kindergeburtstag. Alle machen Witze. Leider verstehe ich kein Wort. Der Wiener Dialekt ist wirklich arg hier.
Als ich drankomme und nach meinem Wunsch gefragt werde, sage ich leutselig: "Is mia wuascht, mochen S’ di Hor kuaz, aber koanen Nazischnitt, bittschön!" Das war lustig gemeint, und wirklich lachen die Männer erneut derb und herzlich. Meine wenigen Bayrisch-Kenntnisse helfen mir immer ein wenig über die Fremdheit hinweg. Einen Witz verstehe ich sogar: "Wos is der Unterschied zwischen aner Masseurin und aner Masseuse?" will einer der beiden Friseure wissen und gibt gleich die Antwort: "A Masseurin mocht Hoates wach, a Masseuse Waches hoat!" Brüllendes Gelächter. Auch ich schlage mir auf die Schenkel. Hier darf ich das, hier ist Männerwelt. Vielleicht der letzte Zipfel davon. Der Föhn heult, der Schneideapparat brummt, der Wiener Singsang springt hin und her. Dazu zwitschert sogar, wenn auch kaum hörbar, ein kleines Transistorradio billige Schlager. Die meisten Kunden, sagt man mir, kommen schon seit dreißig oder vierzig Jahren. Als ich fertig bin, wundert mich meine neue Frisur. Für mich ist es ein lupenreiner Nazischnitt! Und ich sage es auch, klar und deutlich, auf Hochdeutsch. Zum Glück irre ich mich. Es ist nämlich, wie ich nun erfahre, einfach der unveränderte Faconschnitt von 1877.
joachim.lottmann(at)kurier.at
Kommentare