Welthauptstadt der Jugend

wunder WELT: Kreislauf
wunder WELT: Joachim Lottmann über den fehlenden Berliner Schmäh.
Joachim Lottmann

Joachim Lottmann

Das war nicht leicht für mich. Ich musste noch einmal nach Deutschland reisen, um einen Preis zu übergeben. Das hatte ich vor Jahren zugesagt. Den Wolfgang-Koeppen-Preis. Benannt nach Wolfgang Koeppen. Das ist ein Schriftsteller gewesen. Stopp, nicht aufhören zu lesen! Kein weiteres Wort mehr darüber. Ich sage ja nur, ich war dort oben, habe genau hingeschaut, und erzähle Ihnen nun, der Sie nicht da waren, wie es war. Nämlich grausig. Unfreundlich. In Berlin auch lustig. Dort kriegt man statt weißer Handtücher und frischer Laken einen freigeschalteten Laptop ans Bett. Der Gast soll sich wohlfühlen, also online sein. Hauptsache Facebook, das ist die Maxime liebevoller Gastgeber. Im Bad liegen nasse Klumpen auf dem Boden, Haare verstopfen den Abfluss, im Flur stapelt sich kniehoch undefinierbarer Hausrat – aber das Radio dröhnt zum Ausgleich 24 Stunden am Tag fetzige, rebellische Gute-Laune-Musik ins Ohr des umsorgten Gastes. Alles aus den Beständen der Achtziger und Neunziger, denn heutzutage gibt es ja solche Musik gar nicht mehr. Auch die Einwohner dieser seltsamen Metropole sehen alle aus, als seien sie 1990 für zwei Jahrzehnte ins Koma gefallen und nun für immer jugendlich, rebellisch, aufmüpfig und gut drauf. Berlin ist die Welthauptstadt der Jugend, freilich einer künstlichen. Unheimlich. Alle wollen lieb sein, schauen aber, nach wenigen Sekunden des happy-go-lucky, erstaunlich verbittert, misstrauisch, dünkelhaft. Schmäh haben die keinen. Da sehnt man sich schon nach Wien. Nach den verbindlichen Worten des Anzengruber-Wirtes "Ja, der Herr Doktor, schön, dass Sie wieder da sind, Herr Doktor, was darf’s denn bitteschön sein, wieder wie letztes Mal?" Und man lehnt sich zurück, schaut noch einmal links und rechts, sieht keinen einzigen ganzkörpertätowierten gut gelaunten Mittvierziger mit Teenie-Basecap und verrückten Ecstasy-Augen, und die Genickstarre löst sich endlich wieder.

joachim.lottmann(at)kurier.at

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