Schwerer Entzug

wunder WELT: Kreislauf
wunder WELT: Joachim Lottmann über einen Unfall auf der Rolltreppe.
Joachim Lottmann

Joachim Lottmann

Da die Maria sich gerade das Rauchen abgewöhnt – 28 Jahre lang eine Packung am Tag – passierte uns gestern ein echtes Unglück. Ich schob unvorsichtigerweise mein Fahrad auf eine Rolltreppe der U-Bahn. Das ist eigentlich verboten. Das Rad wurde durch die Schräge der hohen Stufen in eine höchst unstabile Lage gebracht. Die Maria, im dritten Tag auf Entzug, fasste mich von hinten, um mich umzudrehen und zu küssen. Laut Abmachung darf sie das, sobald sie Lust auf eine Zigarette bekommt. Sie darf mich dann busseln, exakt für die Dauer einer Zigarettenlänge – nicht aus Liebe, sondern als Kompensation.

Das Rad entglitt mir. Es wurde nach oben geschoben, unter die Füße der Leute, denn wir waren schon am Ende der Rolltreppe angelangt, und das Rad verhakte sich dort. Ich fiel auf das Rad, dann die Maria, die sich dabei fast verletzte. Immer mehr Menschen wurden auf das Rad und auf uns geschoben, und binnen einer Sekunde brach Panik aus, wie bei der Love Parade in Duisburg. Alle Frauen schrien gleichzeitig. Die Rolltreppe war besonders lang, es war die vom Stephansplatz. Weitere hundert Menschen wurden unerbittlich nach unten gepresst. Aber ich konnte einfach aufstehen und den Notknopf suchen. Wo war der? Ich drückte alle vier Knöpfe, die es gab. Keine Reaktion.

Also zog ich lieber meine Frau aus dem Menschenknäuel. Ich packte ihre beiden Hand­gelenke, und es gelang. Nun suchten andere den Notknopf. Wo war er nur?

Endlich: Es war kein Kopf, sondern ein Griff! Feuerwehrrot und gusseisern wie in Urzeiten. Die Treppe hielt an, eine Sirene erklang. Die Leute krabbelten schnell weg. Nach einer Minute waren sie verschwunden, die Sirene hörte auch bald auf.

Kein U-Bahn-Mitarbeiter erschien. Am Ende blieb nur der Schock. Und ein noch schwerer gewordener Entzug-

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