wien MITTE: Weihnachtswunder

wien MITTE: Weihnachtswunder
Irgendwann schlurfte er zu seinem uralten Mikrofon, schüttelte sein unglaubliches Gesicht, sträubte seine herrlichen Koteletten und sang. Die Zeit radelte zurück.

In Wien gibt es manchmal Erscheinungen, die mit dem inneren Rhythmus der Stadt zusammenhängen. Sie ereignen sich scheinbar irgendwann. Finden sie im zeitigen Frühjahr statt, deuten wir sie zu österlichen Offenbarungen um. Nehmen wir sie jetzt im Advent wahr, sehen wir sie gern als Weihnachtswunder.

Ich also habe ein Weihnachtswunder erlebt. Ich habe Al Cook spielen gehört. Al Cook ist ein glänzend gekleideter Herr, der seit bald 50 Jahren in dieser Stadt den Blues spielt. Wenn man ihn auftreten sieht und spielen hört, ist das Raum-Zeit-Kontinuum plötzlich löchrig wie die Schuhsohlen des sich sterbend dahinschleppenden Kapitalismus. Al Cook wurde als Alois Koch im Salzkammergut geboren, kam als Bursch nach Wien, wo er den Elvis-Film Gold aus heißer Kehle sah, um in der Folge erst dem Rock ’n’ Roll und dann zunehmend seiner finsteren, sumpfigen Oma, dem Country Blues, zu verfallen. Den spielte er bereits, als die Regierung Klaus angelobt wurde. Den spielt er bis heute in gülden patinierter Meisterschaft. Ich gestehe ja gern, in der Seele mehr ruhender als rasender Reporter zu sein.

Ich warte, dass die Welt in meine Kreise eintritt. So sah ich Al Cook vergangene Woche natürlich in Mitte, im einzig wahren Café dort, im Heumarkt. Al Cook, sein cognacbrauner Nadelstreif, seine Budapester Schuhe, seine Gibson L 5 und sein Begleiter, der Klavierspieler Charlie Lloyd, trafen im Heumarkt ein.

Sie probierten ein bisschen im noch leeren, aber schon von der frühen Winternacht umspülten Café. Und schon bei den ersten Tönen schien es, als ob die Lampen gedimmt würden, von der Hand des großen Finsterlings, der am Highway 61 noch immer auf die jungen Gitarrenspieler wartet. Dann kamen die Zuhörer, und Al Cook nahm sie gar nicht wahr. Irgendwann schlurfte er zu seinem uralten ziegelsteinförmigen Mikrofon, schüttelte sein unglaubliches Gesicht, sträubte seine herrlichen Koteletten und sang.

Die Zeit radelte zurück. Erst in die Fünfziger, als Elvis und Al Cook in einem Wiener Kinosaal Blutsbrüder wurden, dann weiter in die Zwanziger, als Al Cooks unsterbliche Seele in einem Willow Tree des Delta hängengeblieben sein muss. Damals war auch Krise, so wie jetzt.

Al Cooks Musik passt hervorragend zum Weihnachtsfest 2011.

ernst.molden(at)kurier.at

 

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