wien MITTE: Tausend Lieder

wien MITTE: Weihnachtswunder
Der Zweitgeborene und ich absolvieren eine Gitarrenstunde, ich zeige dem Sohn, wie man von C-Dur auf A-Moll wechselt, wie das Stückl dann trauriger wird, wie man sich aber retten kann, indem man G7 spielt.

Minus zwölf Grad. Eiskalt. Zweistelliges unter null, ich kann mich nicht erinnern, wann es in Wien zuletzt so war. Wir gehen jetzt nicht mehr hinaus. Wir starren aus dem Fenster, in den Tag für Tag heller werdenden Himmel, aber wir rühren uns nicht. Zu kalt. Der Zweitgeborene und ich absolvieren am Feuer eine Gitarrenstunde, ich zeige dem Sohn, wie man von C-Dur auf A-Moll wechselt, wie das Stückl dann trauriger wird, wie man sich aber retten kann, indem man als nächstes G7 spielt, das Allheilmittel Dominantseptakkord, das die Gewissheit des erlösend wiederkehrenden C-Dur schon in sich trägt. "Gibt’s das Lied schon?", fragt der Zweitgeborene, sich die roten Fingerkupperln reibend. "Tausend Mal", sage ich. "Und jeder von uns schreibt irgendwann noch eines dazu." Vor zirka 20 Jahren war es schon einmal so kalt. Aber weil der junge Mensch weniger friert als der mittelalterliche, ließ ich mich damals von dem zeitweilig als Kabarettisten missverstandenen Performancekünstler Karl Ferdinand Kratzl ins Künstlerhaus verzahren, wo er mir eine ungeheuerliche Band zeigen wollte, die ihr Licht über Wien leuchten ließ: Franz Franz & The Melody Boys. Wirklich ungeheuerlich. Eine Mischung aus Balkan und Bayou. Beatniks und Kafka-Kreaturen in einem. Gleichermaßen quälend und das Weltleid mildernd. "Jede Nochd um hoiba aans gibds a Madl oder kaans", sangen sie zum Beispiel. Franz Franz boten mir echte Erweckung. Ein paar Jahre später trennten sie sich, ein paar von ihnen wurden zum ebenfalls superen Kollegium Kalksburg, während der sardonische Frontman eigene Wege ging. Man kann diesen großen Dichter und Sänger, er heißt Stefan Sterzinger, noch immer hören. Seine heutige Band heißt Sterzinger Experience und ist ebenfalls ein Wunderwerk. Drei Ziehharmonikas, Geige und Rhythmusgruppe, dazu der Sterzinger mit seiner lila Federboa und seinen Songs: Honkytonk Woman als Tango oder Faschiertes aus den Flachsen des Austropop. Musik für die Zeit nach dem Weltende und die ganz große Kälte: "Marantana / I woa immer Indianer / Manchmal wollt ich Cowboy sein / Doch dafür ist mein Hirn zu klein", singt Sterzinger. Ich spiele das Stück dem Zweitgeborenen vor. "Oag", sagt der Zweitgeborene. Er hat recht. Minus dreizehn Grad.

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