wien MITTE: Meteorologische Wechselspiele

wien MITTE: Weihnachtswunder
In Erdberg treffen uns die jeweils aktuellen Wetterwechsel ungeschützt, wie immer wieder überraschende Faustwatschen.

Die Erdberger Klippe, von der aus wir in die Welt schauen, ist dem Westen zugewendet, sprich: "dem Wetter". Unten in Mitte, als wir Richtung Pannonien schauten, erreichten uns die meteorologischen Wechselspiele eher versetzt, schaumgebremst. Jetzt treffen uns die jeweils aktuellen Wetterwechsel ungeschützt, wie immer wieder überraschende Faustwatschen.Tag eins: Schnee. Der Schnee fällt zum ersten Mal in diesem Winter. Er wird vom Wind fast waagrecht durch die Landstraßer Haupt getragen, in der Luft überholt er den 74 A, fällt vor dem stöhnenden Bus zu Boden, wird von meinen Kindern zu Bällen gerollt und in die Schlacht getragen.Tag zwei: Sonnenschein. Zum Zwecke der Ideenfindung wandere ich zum Sankt Marxer Friedhof. Dort ist der Schnee liegengeblieben. Tief steht die mittägliche Sonne. Die Grabsteine werfen lange Schatten. Ich bin heute der einzige Mensch hier, schreibe am Bankerl ein, zwei Absätze, ehe die Finger zu klamm sind. Wie immer frage ich mich, ob mir das den Friedhof verwaltende Stadtgartenamt ein Dachzimmer in dem stillen Friedhofsgebäude vermieten würde, als Denk- und Schreibstüberl. Ich lächle dem Grab des Nähmaschinenerfinders Madersperger zu und gehe. Tag drei: Regen. Fetter, unabweislicher Regen. Regen mit Sturm, an unsere Klippe gepeitscht. Ich muss noch Brot kaufen, stehe am Weg zum Supermarkt an der Landstraßer Haupt, der Regen rinnt mir in den Kragen der Jacke und ich setzte diesen wiederkehrenden symbolischen Befreiungsschritt. Ich quere die Haupt, weder beim Petrus-Zebrastreifen noch beim Raben-Zebrastreifen, sondern in der Mitte, ungeschützt, unbeampelt. Würde ich meiner Brut niemals erlauben. Stehe ich mit meiner Brut an der roten Fußgängerampel und ein Fremder geht bei Rot los, zische ich ihm gern ein bitterböses "Sehr intelligent!" nach. Aber jetzt hier, ein regennasser Solitär im Tarnzeugs des Landstraßer Niederschlags, gehe ich einfach los. Hochgefährdet aber selbstbestimmt stiefle ich über die Straße, während die Tageslichtscheinwerfer der Erdberger SUVs rasch näherkommen, auf der anderen Seite happe ich zwischen den parkenden Autos zum Gehsteig. Ich bin in diesem Moment völlig frei. Völlig frei kaufe ich ein halbes Tirolerbrot.

ernst.molden(at)kurier.at

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