wien MITTE: Fehler im Paradies
"Alles, was die Natur selbst anordnet, ist zu irgendeiner Absicht gut." Das sagte Kant. Die Natur aber ordnete jüngst weitere eiskalte, trockene und lichterfüllte Spätwintertage entlang unserer Wochenenden an und zwang uns somit zu weiteren Freiluftaktionen. Diesmal lenkten wir den Leichenwagen in die Lobau. Da freute ich mich. Ich habe eine Vergangenheit mit der Lobau. Sie ist für mich so etwas wie eine Ex, mit der man trotzdem immer gut ausgekommen ist.
Mein vorletzter Roman spielte in der Lobau, und ich schrieb ihn auch dort, im Jahr bevor der Erstgeborene zur Welt kam. Ich lag damals im Unterholz herum und sprach bizarre Episoden auf ein Diktiergerät, die ich dann zuhause wie seltsamen Schmuck auf den wackeligen Christbaum meines Plots hängte. Es war Sommer. Die Nackten wälzten sich in der Dechantlacke. Die Gelsen umflogen wie ein halbseidener Heiligenschein mein Haupt. Die Lobau verdrehte mir den Kopf. Ich empfand sie als gleichermaßen bombastisch, lächerlich und geil, etwa wie eine Operette in Mörbisch. Aus diesen Erinnerungen speiste sich meine Vorfreude: "Kinder wir fahren in die Lobau!" "Ich hasse die Lobau", sagte die Drittgeborene. "Warum?", fragte ich. "Du kennst sie nicht." – "Es ist zu kalt für alles!" "Da draußen lauert ein Wolf, er will mein Blut. Wir müssen alle Wölfe töten!" Das aber sagte nicht ich. Das sagte Stalin. Wir nahmen die Zufahrt durch die Saltengasse, ließen den Leichenwagen stehen und machten uns auf den Weg in die Wildnis. Die Lobau im Spätwinterkleid hatte mit meiner überhitzten Jungmännerfantasie von 1999 nichts zu tun. Die Lobau war eine majestätische, ruhige, sich tendenziell verweigernde Flusslandschaft, von Feldern und Steppen durchsetzt. Dazwischen die breiten, struppigen Rücken der Urwälder. Wunderschön. Die Kinder schmissen Äste auf zugefrorene Altarme, spielten Fußball auf raureifgeschmirgeltem Wildrasen. Zuletzt fanden wir ein stehengelassenes Camp von Freaks, mit Kunstblumen, die auf kahlen Bäumen montiert waren und einer Hippiedecke im Gebüsch. "Ist das nicht leiwand?", fragte ich die Kinder. "Mir ist fad", entgegnete die Drittgeborene. "Wer Fehler finden will, findet sie auch im Paradies." Das sagte auch nicht ich, das sagte Henry David Thoreau.
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