Verliebt in Wien

Ernst Molden

Ernst Molden

Manchmal würde ich dieses Stunde-null-Gefühl, das man am Anfang eines Jahres hat, gern ausdehnen

von Ernst Molden

über das neue Sein in Wien

Manchmal würde ich dieses Stunde-null-Gefühl, das man am Anfang eines Jahres hat, gern ausdehnen, auf das Verhältnis zu meiner Stadt. Ich habe innerlich akzeptiert, dass ich an Wien festpicke wie ein Kaugummi an einer Schreibtischunterseite, dass man mich zwar ein Stück wegziehen kann, ich sodann aber wieder zurückschnalze, einem Naturgesetz folgend. Dabei würde ich mich gern manchmal neu in Wien fühlen. Wie die Deutschen, die sich en gros in Wien verlieben und dann länger bis für immer hier sind. Zu einem meiner Konzerte kam eine junges baden-württembergisches Pärchen, Studenten, im Vollgefühl ihrer Wien-Entdeckung, die mir solange vom Naschmarkt und vom Brunnenmarkt vorschwärmten, bis ich ihnen ein bisschen fies den Volkert- und den Victor-Adler-Markt empfahl. Dann ging ich christkindmäßig in ein neues, hochambitioniertes Ledergeschäft im Zweiten, das von einem mittelalten, mitteldeutschen Pärchen betrieben wird. Und stieß auf dieselbe parareligiöse Wien-Verzückung, die hier noch feinstofflich in der Luft lag, obgleich die beiden deutlich länger in Wien sein mussten. Ich geh jetzt mal rüber in den Gemüseladen! stieß sie begeistert hervor. Ja! jubelte er, während er mir den Zip einer Handtasche erklärte. Und ich, der ich von zahlreichen Wiener Eltern, Groß- und Urgroßeltern Generationen lang im Humus Wiens vorbereitet wurde, ich sehnte mich plötzlich danach, einen Augenblick lang Deutscher zu sein. Ganz neu in Wien, naiv und überraschbar. Ich hätte gern gleichzeitig meine Erfahrung und

die deutsche heilige Einfalt beim Eintritt nach Wien. Ich könnte mich wieder freuen über so simple Sachen, wie, sagen wir: Die Anker­uhr und die Spinnerin am Kreuz. Im Gespräch mit der Liebsten ventilierte ich Placebo-Szenarien für die Nachempfindung des deutschen Entdeckergefühls. Ich könnte, sagte ich, nach Auhof zur Raststation rausfahren und dann ganz langsam und bewusst die Westeinfahrt wieder rein. – Vielleicht musst du nur in einen anderen Bezirk, sagte die Liebste. Geh einmal zum Karmelitermarkt statt zum Rochus. – Schwierig, sagte ich. So viele Deutsche. Fühlt sich an wie Berlin.

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