Totes Berlin

wien MITTE: Weihnachtswunder
wien MITTE: Eine weitere Dame erschien, erstand eine Schallplatte und flüsterte mir zu: "Berlin hat nichts, gar nichts. In Wien, da ist das Leben!" Tja, machte ich bedauernd.

Der von mir verehrte Dichter Amanshauser, sein dreijähriger Sohn und ich fuhren vergangene Woche nach Berlin, um dort in der österreichischen Botschaft zu singen und zu deklamieren. Den unglaublichen lieben Sohn des Dichters Amanshauser schob aller­dings sofort ein russisches Kindermädchen im Buggy davon, um ihm das Sony-Center zu zeigen. Damit verdunkelte sich die Stimmung, und uns schluckte die Botschaft. Diese wurde vom Architekten Hollein erbaut, der irgendwann ein Anhänger der Fernsehserie Miami Vice gewesen sein muss, so gagerltürkis hat er das Gebäude anmalen lassen.

Dennoch ergriff Amanshauser und mich die Bedeutung des Ortes, und, davon angestrahlt, unsere eigene. Im Inneren des Hauses herrschte Rührung, nicht weil Amanshauser und ich für einen Abend aus Wien gekommen waren, sondern weil der Kulturattaché nach vier Jahren nach Wien zurückkehren musste. Der Titel der Veranstaltung lautete "Politik und Poesie". Wohlan!, rief ich Amanshauser zu. Er las passenderweise mein Lieblingsgedicht "Der Dichter ist ein einsamer Wolf". Darin heißt es über den Dichter, er "mag hitler ungern, findet lenin besser / trinkt tee- und kaffeeähnliche gewässer". Die Lesungen Amanshausers wurden beklatscht, und auch die Lieder, die ich spielte, schienen niemanden zu stören. Nachher stand man im von Hollein mondkipferlförmig angelegten Foyer, und Amanshauser und ich versuchten Bücher und Schallplatten zu verkaufen. Eine Dame mittleren Alters trat zu mir und sagte: "Danke für das bisschen Wien. Wissen Sie, ich habe Berlin immer gehasst, muss jetzt aber hier leben." Oh! sagte ich. Eine weitere Dame erschien, erstand eine Schallplatte und flüsterte mir zu: "Berlin hat nichts, gar nichts. In Wien, da ist das Leben!" Tja, machte ich bedauernd. Eine dritte Dame kam und schaute mich deprimiert an. – Ich weiß, sagte ich. Sie nickte. Der sehr freundliche Botschafter drückte Lob für unsere Darbietungen aus, und dann war alles wieder vorbei. Draußen war es dunkel, kühl und frisch. Das Berliner Nachtlicht machte aus Holleins Türkis ein gnädiges, gatschiges Gelb. "Ich find’s eigentlich sehr schön", sagte ich mit Blick auf die Haine des Tiergartens zu Amanshauser. Er nickte. Trotzdem fuhren wir am nächsten Tag zügig wieder heim.

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