Silberpappel

Ernst Molden

Ernst Molden

Die moribunde Pappel stimmt mich nachdenklich, nun, da die Stürme wehen.

von Ernst Molden

über das Alter

Die riesige Silberpappel in der Praterau hat, wie ich glaube, nicht mehr viel Zeit. Schon im Vorjahr wurde sie mit einer schönen Sicherheitspalisade aus Ästen umgeben inklusive eines rotweißen Warnbands. Innerhalb dieses Kreises könnte die Riesenpappel in jede Richtung ungeniert umfallen, und wer außerhalb des Zaunes stünde, bliebe verschont.

Die moribunde Pappel stimmt mich nachdenklich, nun, da die Stürme wehen. Vor ein paar Wochen ist einer ihrer größten Äste abgefallen, der ganze zweite Bezirk muss davor gezittert haben. Jetzt liegt der Ast da wie ein toter Held aus der Vorzeit. Die Pappel macht manchmal Geräusche, das höre ich, wenn ich im Schritttempo mein Patagoniaradl an ihr und ihrem Sicherheitshof vorbeilenke. Sie kracht nicht einmal, sie gibt etwas viel tiefer Erschöpftes von sich, ein dunkles, mattes Brummen oder Ächzen, einen Laut, den uralte Menschen von sich geben, bevor sie noch einmal ausgehen, zum Markt oder zum Arzt. Ich fahre an der Riesenpappel vorbei, dann komme ich nach ein, zwei Kurven, in denen ich absteigen muss, wegen des Unterholzes, an meine Lieblingsbucht. Hier ist das beste Bayou von Wien. Ich dachte ja, ich hätte meinen allerschönsten Herbsttag dort schon im September erlebt. Aber er kam erst unlängst, Ende Oktober.

Das Schilf wird gelb, es macht harfenartige Musik, im Praterwind. Ich sitze auf einer Weide, die der Pappel schon vor einiger Zeit vorausgestürzt ist und jetzt wie eine Mole ins Wasser ragt. Am allerschönsten Herbsttag ist es so heiß, dass ich Jacke und Hemd ausziehe. Im Unterleiberl und am Ende gar ohne Schuhe und Socken sitze ich auf dem Baumstamm und spiele ausschließlich sentimentale Lieder. Das käme mit dem Alter, hat mir ein Musikerfreund versichert, dass man bei sehr gutem, aber auch bei sehr schlechtem Wetter nur noch sentimentale Lieder spielt. Das käme mit dem Alter so unaufhaltsam wie die geschwollenen Füße. Es ist so heiß, dass ich meine geschwollenen Füße nun für Sekunden ins herbstlich kalte Lusthauswasser stecke. Als ich sie herausziehe und wieder in die Sonne halte, nimmt ein im Hochzeitsakt befindliches Libellenpaar darauf Platz. Es bleibt sitzen, bis das sentimentale Lied vorbei ist.

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