Scheingewitter
Mein Bruder verlässt wieder das Land, diesmal an den Mississippi, um Vorlesungen zu halten. Einerseits bin ich ihm so Sachen stets neidig, andererseits wäre es wohl auch sehr anstrengend. Jedensfalls mussten wir uns gebührend verabschieden und verabredeten uns im Freihausviertel.
Eine tropische angefeuchtete Julinacht brach über Wien herein. Unser Liebslingsjugo im Freihausviertel hatte Ruhetag, das alte Wiener Wirtshaus eine Gasse weiter überhaupt gleich Sommerpause. Wir landeten schließlich in jenem Szenebeisl aus den Achtzigern des letzten Jahrhunderts, in dem wir weiland oft, seitdem aber nimmermehr gewesen waren. Ein Scheingewitter trieb zunächst alle Gäste ins Innere, als es dann aber nicht kam, blieben trotzdem alle drinnen, schwitzten und tranken wie in einem hitzigen Hemingway-Traum. Später spazierten mein Bruder und ich durch die feuchte Stadt, und setzten uns als die einzigen Gäste in den Wagner-Pavillon am Karlsplatz, um weiterzutrinken.
Es war dunkler als sonst in Wien, als hätte ein nur im Hochsommer amtierender Hofrat ein Sparprogramm für die Straßenbeleuchtung verordnet. Mein Bruder schilderte mir, was er sich vom Mississippi erwartete. Tapfer antworte ich mit ein paar Geschichten aus Erdberg. Wir wanderten weiter, über Schwarzenbergplatz und Stadtpark, die Wien entlang, bis zur Urania, wo wir uns fest umarmten.
Gerührt schwang ich mich aufs Patagonia-Radl und schnurrte kanalabwärts, ins Erdbergische, wo es noch dunkler wurde, als hätte sich die atmosphärische Feuchtigkeit wie eine graulurchige Gardine über alles gelegt. Ich bemerkte, dass ich mir den Mississippi, den ich nie gesehen habe, genauso vorstellte wie den Donaukanal in jenem Moment: glucksend, schwarz, scheinbar endlos.
Als ich in die Häuserschlucht der Haidingergasse stieß, fiel mir auf, dass hier das Lichtkegelchen des Patagonia-Radls das einzige Licht überhaupt war. In Erdberg musste das Scheingewitter ein tatsächliches gewesen sein. Die Straßenbeleuchtung war ganz ausgefallen, und der Lindenblütenteppich im Joe-Zawinul-Park war glitschig und nass.
Daheim saß die Liebste am Schreibtisch.
"Wie war’s", fragte sie.
ernst. molden(at)kurier.at
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