Der Mai
Der Mai ist ein aufschlussreicher Monat, was den Zustand des Menschen nach einem Wiener Winter angeht. Der Mai macht nicht etwa alles neu, im Gegenteil, er macht alles Alte offenbar. Weil im Mai sperrt das Stadionbad auf. Ich gehe hinein, werfe vor der hellen Welt die Kleider ab und schwimme. Währenddessen und danach erkenne ich mich selbst. Ich kann also sagen: Der heurige nachwinterliche Zustand ist nicht schlecht, aber auch nicht gut.
Ich bin heuer seit Langem wieder einmal Saisonnier im Stadionbad. Ab Neunzehn-Mal-Herkommen, hab ich mir ausgerechnet, zahlt sich die Saisonkarte aus. Sechs Mal hab ich schon. Bei der Saisonkarte war automatisch ein Kasterl dabei. Dieses Kasterl hab ich als alter Wiesenmensch noch nicht besichtigt. Aber der Gedanke, eines zu haben, erfreut mich irgendwie. Manchmal betrachte ich berührt den seltsam geschnittenen Schlüssel und denke mir: Eines Tages lege ich eine Bürste in mein Kasterl. In den ersten beiden Wochen war die große Uhr im
Stadionbad auf sieben vor neun stehen geblieben. Das gefiel mir, denn zwischen acht und neun in der Früh dürfen nur Saisonniers ins Stadionbad. Die stehen gebliebene Uhr schien meine Exklusivität zu feiern, und das, obwohl ich noch nie vor halb zehn hingekommen bin. Zu den sonstigen Neuigkeiten zählt das heurige Dienstgewand der Bademeister: ein erdbeerrotes Muskelleiberl. Mein Lieblingsbademeister ist ein hervorragend gelaunter Glatzkopf von der Sorte, die nie laut werden, sondern schlimme Buben mit einem winzigen Blick erdolchen. Zum erdbeerroten Leiberl trägt er eine himbeerrote Trinkflasche bei sich, und allein sein raubkatzenartiger Gang um das Sportbecken schafft ohne Worte eine Atmosphäre der entspannten Ordnung.
Die unselige letztjährige Neuerung, das Sportbecken in einen normalen und einen Senioren-Teil zu trennen, hat man leider beibehalten. Es führt dazu, dass sich die Senioren in affirmative Kampf-Senioren einerseits und Ewig-Junggebliebene andererseits teilen und in beiden Becken vorkommen.Bei solchen Überlegungen fühlte ich mich aber neuerdings von zwei sportlichen Burschen beobachtet, und mir wurde klar, dass sie mich zwar zu den Ewig-Junggebliebenen, aber doch auch klar zu den Senioren zählten.
ernst.molden(at)kurier.at
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