Buchstabieren wie in der NS-Zeit: Die große Angst vor der „Rückverjudung“
Warum, fragt man sich, hat Stadt eine 70.000 Euro teure Studie in Auftrag gegeben?
Ihr Tratsch-Partner muss sich entschuldigen. Am 22. Februar schrieb er, dass der Wiener SPÖ-Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny im Juli 2013 den Bericht über umstrittene Straßennamen präsentierte. In der Folge sei der Dr.-Karl-Lueger-Ring in Universitätsring umbenannt worden. Was allerdings nicht stimmt. Peter Autengruber, einer der vier Studienautoren, wies höflich darauf hin, dass dieser Akt bereits 2012 gesetzt worden war. Der Bericht, mittlerweile als Buch beim Pichler Verlag erschienen, zeitigte also noch weniger Ergebnisse als gedacht. Warum, fragt man sich, hat Stadt die 70.000 Euro teure Studie in Auftrag gegeben, wenn sie ohnedies kein Interesse hat, sich z. B. mit der NS-Vergangenheit diverser Größen auseinanderzusetzen?
Die Kolumne sorgte zumindest für einige Erregung. Eine Leserin schrieb, es sei durchaus entbehrlich, „auf Teufel komm raus Straßennamen“ umzubenennen: „Haben Sie schon einmal daran gedacht, was eine Änderung für Bewohner und Firmen an Behördenwegen, Kosten und anderen Problemen mit sich bringt? Ich habe so etwas bei der Änderung von Aspernplatz auf Julius-Raab-Platz schon einmal miterlebt. Ein Horror!!!!!!“
Der Horror ist nachvollziehbar, da es im Jahr 1976 auch keinen triftigen Grund für die Umbenennung gab. Laut Oliver Rathkolb, Mitglied der Forschungsgruppe, scheute Raab, der „Baumeister“ der Zweiten Republik, im Nationalrat „nicht vor öffentlichen antisemitischen Zwischenrufen“ zurück; der Sozialdemokrat Otto Bauer z. B. war für ihn „ein frecher Saujud“. Der Raab-Platz wurde daher als Verkehrsfläche „mit Diskussionsbedarf“ eingestuft – und im Buch mit drei Sternchen (von maximal vier) „ausgezeichnet“. Das heißt aber natürlich nicht, dass es zu einer neuerlichen Umbenennung kommen soll! Es reicht schon eine sogenannte „Kontextualisierung“, ein Hinweis neben dem Schild. Auf dieser Zusatztafel könnte stehen, dass Raab Antisemit war und ehemalige NSDAP-Mitglieder für die Volkspartei rekrutierte.
Noch mehr als die Debatte um strittige Straßennamen erregte die Leser aber der Hinweis Ihres Tratsch-Partners, dass man in Österreich noch immer nationalsozialistisch buchstabiert. Denn in der NS-Zeit wurden „jüdische“ Namen wie David, Samuel und Nathan durch Dora, Nordpol und Siegfried ersetzt. „Sie haben Sorgen!“, schrieb ein Leser. „Warum soll man es ,entnazifizieren‘? Dinge, die sich bewährt haben, soll man nicht ändern.“
Die bereits zitierte Leserin schrieb: „Ich bin Jahrgang 1948 und mir ist es wie den meisten aus der Nachkriegsgeneration völlig egal, solange man beim Buchstabieren meines Namens die richtige Schreibweise versteht. Ich glaube nicht, dass wir eine Entnazifizierung oder eine Rückverjudung brauchen. Ich denke, dass manche Lehrer schon froh sind, wenn ihre Schüler überhaupt das Alphabet beherrschen.“ Das Wort „Rückverjudung“ schmerzt. Zum Glück gibt es Pädagogen, die der Hinweis auf die NS-Geschichte des Buchstabieralphabets nachdenklich machte. Ein älterer Deutschlehrer schrieb: „ Ich habe die Tabelle (...) leider heuer schon in zwei Klassen zugemutet bzw. abverlangt! Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich selbst als sehr bewusster Lehrer nicht bemerkt habe, dass die Wörter und Namen ja ganz offensichtlich aus der NS-Ideologie stammen – ein Tiefschlag für mich persönlich!“ Dieser Lehrer möchte nun „ganz lustvoll ein neues Alphabet zur Bewusstseinsmachung für den Privatgebrauch erarbeiten“.
So soll es sein!
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