Perspektivenwechsel

Anna-Maria Bauer

Anna-Maria Bauer

Wenn wir das Haus verlassen, kann ich die Sekunden zählen, bis sie mich aus der Handtasche fischt.

von Anna-Maria Bauer

über Smartphonegedanken

Das erste Mal nimmt sie mich wenige Sekunden nach dem Aufwachen in die Hand. Sie ist noch so verschlafen, dass sie ein Auge zudrücken muss, damit die Buchstaben nicht verschwimmen. Aber offensichtlich sind auf mir unglaublich wichtige Dinge zu erfahren, die keine Sekunde mehr warten können.

Sie wischt auf mir herum, während sie sich die Zähne putzt, während das Wasser zu kochen beginnt und später, wenn sie am Esstisch sitzt und ihr Käsebrot isst. Wenn wir das Haus verlassen, kann ich die Sekunden zählen, bis sie mich wieder aus dem Handtaschenseitenfach fischt. Oft passiert das schon, wenn an der Ampel vor der Schnellbahnstation rot ist, meist macht sie es, wenn wir am Bahnsteig stehen, spätestens aber passiert es, wenn wir in der Schnellbahn sitzen. Obwohl sie weiß, dass ich darin keinen Empfang habe, zieht sie den Facebook- oder Instagram-Feed nach unten und hofft, dass neue Storys geladen werden. Flucht manchmal, wenn sich nur der blaue Kreis dreht. Warum fluchst du, es ist jeden. Tag. das. Gleiche. Dabei gibt ihr das Gesehene – ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen – dann weder besondere Freude, noch Kraft oder gute Laune.

Unlängst hat sie mich eine Nacht in der Firma liegen lassen. Wie ihr das nicht gleich aufgefallen ist, ich weiß es nicht. Jedenfalls hat sie am nächsten Tag einer Freundin verkündet, ab sofort einen Smartphone-freien Abend pro Woche zu starten. Weil es ihr so gut getan habe, richtig zu entspannen, hat sie in mein Mikrofon gesprochen.

Und, was ist passiert?

Nichts, natürlich. Sie drückt immer noch auf mir herum, sobald sie den Fernseher aufgedreht hat. Warum muss sie ihre eMail checken, wenn sie eigentlich ihre Lieblingsserie schaut? Manchmal nimmt sie mich sogar während des Bücher-Lesens kurz zur Hand und gibt ein paar Instagram-Herzen ab. Wozu das gut ist, weiß auch niemand.

Ganz ehrlich: Ich warte ja nur darauf, dass sie einmal im Schlaf die Hand nach mir ausstreckt.

Einfach aus Gewohnheit.

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