Geht's noch?

Und wieder einmal ist passiert, was eigentlich nicht mehr passieren dürfte: Frauen wird, mehr oder weniger subtil, die (Mit-)Verantwortung für sexuelle Übergriffe zugeschoben, indem man ihnen Ratschläge für „richtiges“ Verhalten gibt. Und jetzt bitte ein Ganzkörperkondom, damit wir ganz schnell unsichtbar werden.
Gabriele Kuhn

Gabriele Kuhn

Wenn die sich auch so aufreizend anziehen ...“ Ich habe keine Ahnung, wie oft ich diesen Satz im Laufe meines Lebens gehört habe, aber immer noch macht er mich wütend. Es ist der perfide Versuch, Mädchen und Frauen klarzumachen, dass jegliche Form sexueller Belästigung ursächlich und in erster Linie einmal der Frau selbst zuzuordnen sei. Das Prinzip Ursache/Wirkung wird missbraucht: „Wenn du mit Minis und hohen Stiefeln daherkommst, brauchst du dich nicht zu wundern.“ „Wenn du einen tiefen Ausschnitt trägst, musst du halt damit leben, dass du einladend wirkst.“ Und jetzt wieder. Rund um die schockierenden Geschehnisse in Köln, also die massenhaften sexuellen Übergriffe auf Frauen, wurde viel Kluges gesagt und geschrieben. Und ebenso viel Blödsinn. Wie immer folgte die reflexartige und gut gemeinte Rat-Schlägerei in Form von Verhaltenstipps, die Frauen befolgen sollten. Etwa der „Armlänge-Sager“ von Henriette Reker, Oberbürgermeisterin von Köln. Basierend auf gängige polizeiliche Tipps sagte sie, dass Frauen sich von Fremden eine Armlänge fern halten sollten. Prävention in Weiberhand – und dann? Lange Röcke, Rollkragenpulli, Ganzkörperkondom? Der Shitstorm folgte prompt. Unter dem Stichwort #einearmlaenge kochte in den sozialen Netzwerken Ärger hoch. Spott ergoss sich über den Reker-„Erlass“, anderntags entschuldigte sie sich. Dennoch entstand erneut der Hautgout des „Selbst schuld“, des „Wenn & Aber“-Prinzips – der eigenartigen Logik folgend, dass Distanz, bedeckter Style und artiges Verhalten ein wirksames Gegengift für übergriffige Mannsbilder wären. In der FAZ schrieb Ursula Scheer folgendes: „Frauen in einer demokratischen Gesellschaft, die Gleichberechtigung in ihren Grundrechtskatalog geschrieben hat, brauchen keine Verhaltensempfehlungen. Sondern die Sicherheit, dass der öffentliche Raum ihnen genauso gehört wie Männern, woher immer diese auch kommen mögen.“ Das ist so richtig wie Illusion zugleich. Kaum jemand, der seiner Tochter nicht im „Pass auf, was du tust“-Sinne erzieht. „Sage nein, sage stopp“ predigen wir. Es sind die Mädchen, die in Kursen lernen müssen, wie sie schreien oder adäquat auf böse Onkel reagieren. Es sind die Mädchen, um die man nachts bangt, wenn sie lange ausgehen. Denen man Taxigeld zahlt und rät, sie sollen sich doch bitte ein „Frauentaxi“ nehmen. Denen man sagt, wie wichtig es sei, sein Getränk nicht solo stehen zu lassen, Stichwort: K.O-Tropfen. Und es sind die Frauen, denen „komische Dinge“ passieren. Gestern wie heute. Mir, zum Beispiel, mit 23 – als mir ein Vorgesetzter bei der ersten Firmenfeier die Zunge ungefragt in den Mund schob. Oder mir ein wichtiger Kunde am Ende eines langen Abends zum Abschied einen Knutschfleck verpasste. Und es waren Frauen, die mir rieten, da mitzuspielen, weil: „Der ist halt so, wenn er g’soffn hat.“ Außerdem: ein Kunde! Also lachte ich, wo Kotzen angesagt wäre – dem Typen ins Gesicht. Noch trauriger: Ich vergaß. Und wenn wir daran nicht gestorben sind, werden wir auch weiterhin fest daran glauben, dass die Frauen es wären, die diese Unerträglichkeit verursachen. Doch je mehr wir uns verstecken, desto weniger wird sich daran etwas ändern.

gabriele.kuhn@kurier.at

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