Sein, Schein, Lüge

Sein, Schein, Lüge
Foto-Apps, die unsere Digitalfotos aussehen lassen wie Lomos sind ein Ausdruck des Heimwehs nach einer Zeit, wo wir noch glaubten, was wir sahen.

Was ich eben erst gesehen habe: Fotos auf Facebook, die oben und unten so kleine, ovale Löcher haben. Wir erkennen das sofort: So sahen früher Filme aus. Natürlich stimmt an dem Foto nichts, erstens ist es digital, zweitens waren diese Filmstreifen in Wirklichkeit Negative. Aber. Aber es gibt noch mehr: Foto-Apps, die unsere Digitalfotos aussehen lassen wie Lomos oder wie die Hipstamatic-Fotos aus den Siebzigerjahren, nachdem sie ein paar Jahre im Album klebten, oder wie Stills aus Super-Acht-Filmen, oder wie Polaroids. Diese auf alt gemachten Bilder: Sie drücken einerseits so eine auch im modernen, von den Segnungen der Technik verwöhnten Menschen nicht stillbare Sehnsucht nach Altmodischem und Vertrautem aus. Und andererseits: einen Wunsch nach Transparenz, der in einer Gegenwart nicht verwunderlich ist, in der man kein Vertrauen mehr haben darf, in nichts. Es wurde einem genommen, ruiniert: Das Vertrauen, dass in der Welt Schein und Sein sich decken, das Vertrauen in Systeme, in Parteien, in Nahrungsmittel, in Dinge. Diese bearbeiteten Fotos: Sie sind ein Ausdruck des Heimwehs nach einer Zeit, in der die Dinge das waren, was man sah (oder man glaubte es damals zumindest noch), in der drin war, was draufstand: Wolle im Pullover, Leder im Schuh, Sicherheit in der Bank, Essen im Essen. Heute sind die Dinge fremd, entfremdet, gefährlich. Sie lügen. Wir kaufen einen kuscheligen Pullover, schöne Schuhe: Es ist alles aus Plastik und steckt voller Leid und Gewalt. Das Essen ist giftig. Auch die auf alt gemachten Fotos: Sie lügen. Aber sie lügen so schön: Von einer Zeit, wo wir noch glaubten, was wir sahen.

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