Angst

Wie ich zum ersten mal mit Dottore Amore stritt.
Vea Kaiser

Vea Kaiser

'Hoch!', quietschte er und schnappte nach Luft.

von Vea Kaiser

über einen Spaziergang auf der Brooklyn Bridge

Der Dottore Amore und ich reisen nun seit drei Monaten um die Welt und stritten bisher nicht ein einziges Mal. Doch nun landeten wir in New York und ich setzte mir in den Kopf, die Brooklyn Bridge zu Fuß zu überqueren. Der Dottore Amore zögerte. Weil jeder Supermann ein Kryptonit hat, hat der meine Höhenangst. „Geh komm, da siehst eh nicht runter“, sagte ich und nahm seine Höhenangst nicht ernst. Wie denn auch? Wenn es darum geht, das Näschen auf irgendeiner hippen Rooftop-Terrasse in die Sonne zu halten, ist er der erste, der in den Lift hüpft. „Hoch“, sagte er nach ein paar Schritten, „sehr hoch!“ „Geh bitte, schau wie toll man die Skyline von Manhattan sieht!“, sagte ich. „Hoch!“, quietschte er und schnappte nach Luft. Als seine oliv-braune Haut langsam weiß wurde, schlug ich vor, umzudrehen. Doch er wollte nicht. „Das schaff ich jetzt“, beschloss er und schritt wacker voran.
Es war ein heißer Sonntag, und rund um uns drängelten sich die Menschen. Viele Menschen, sehr viele Menschen, zu viele Menschen: mein Kryptonit! „Schatz, bitte lass uns umdrehen“, sagte ich. „Nein, wir ziehen das jetzt durch“, sagte er. Mir wurde schlecht, ich konnte kaum mehr atmen. „Ich schaff das nicht“, schrie ich. „Du wolltest das!“, schrie er. „Du hättest mich davon abhalten sollen!“ „ALSOBMANDICHVONIRGENDWASABHALTENKÖNNTE“ „Du bist viel älter als ich und hast Medizin studiert – du musst mich von sowas abhalten.“ „Hätte ich dir ein Pferdeberuhigungsmittel spritzen sollen?“ Und so schritten wir, einander mit Vorwürfen überziehend, Höhe und Menschen fürchtend, über diese verda*dr*sch*hunds*-Brücke. Auf der anderen Seite angekommen, fielen wir ins Gras.
„Ich hasse dich“, sagte er. „Ich dich auch“, sagte ich. Und dann umarmten wir uns lange. Seither weiß ich: Man sollte das Kryptonit des Partners immer respektieren.

vea.kaiser@kurier.at

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