Meine Oma
Opa hat seine eigene Straßenkarte im Kopf. Nicht upgedatet seit 1970.
Meine Oma ist gestorben. Dass sie fort ist, kann ich noch gar nicht begreifen, denn die Trauer über den Tod bekommt keinen Raum, wenn die Organisation eines Begräbnisses sämtliche Energie verschlingt. So fuhr ich neulich meinen Opa 13 Stunden lang durch Niederösterreich, um Partezettel auszugreißeln. Es war die härteste Fahrt meines Lebens. Opa dirigierte mich zu Orten, an denen ich nicht dachte, menschliches Leben anzutreffen. Auf Berge hinauf, durch Täler hindurch, Waldwege, Schotterpisten, Forststraßen. Ich hätte gern Googlemaps nach besseren Routen befragt, doch Opa hat seine eigene Straßenkarte im Kopf. Nicht upgedatet seit 1970. Es regnete, die Sicht war schlecht, und als die Dunkelheit aufzog, bekam ich Angst. Als ich am Land gelebt hatte, war mir das Fahren in Finsternis und Nässe niemals schwer gefallen, auch nicht auf unbefestigten Straßen entlang steiler Abhänge. Hatten mich die beleuchteten Wiener Straßen tatsächlich zu so einer City-Sissi gemacht?, wunderte ich mich und verspürte tiefe Traurigkeit. Mir war, als hätte ich durch den Verlust meiner Großmutter auch ein Stück meiner selbst verloren. Den letzten Partezettel brachten wir einer Cousine meiner Oma in den Voralpen. So unwirtlich die Straße war, so herzlich waren die Verwandten. Bevor wir abfuhren, fragte mein Großcousin: "Du weißt eh, dass dein linker Scheinwerfer kaputt ist?" Nein, ich hatte es nicht gewusst. Aber das erklärte die schlechte Sicht. Am Nachhauseweg dachte ich an meine Omi, eine willensstarke, mutige Frau, die sich niemals von einem kaputten Scheinwerfer hätte einschüchtern lassen, und so wischte ich mein Unbehagen beiseite und kutschierte Opa entspannt nachhause. Und schlussendlich ging mir noch ein anderes Licht auf: Wenn jemand stirbt, verlieren wir ihn nicht. Wir verlieren Menschen nur, wenn wir sie vergessen.
vea.kaiser@kurier.at
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