Ein Elefant bei Rotlicht

Wie mich mein indischer Freund zum Staunen brachte.
Vea Kaiser

Vea Kaiser

Tarun erzählte mir, dass er seine Frau vor der Hochzeit nicht kannte, da die Familien die Ehe arrangiert hatten.

von Vea Kaiser

über eine Reisebekanntschaft

So sehr mich die Welt grundsätzlich fasziniert, fasziniert mich Indien auf eine ganz besondere Art. Nicht aufgrund der Farben, Gewürze, Philosophien und dem Rest der allseits bekannten Bollywood-meets-Ayurveda-Romantik, sondern aufgrund seiner Widersprüche. Indien schafft es, eine im ersten Anlauf erfolgreiche Marsmission um weniger Geld durchzuführen als die Hollywood-Produktion The Marsian kostete, aber nicht, dass die Hälfte der Bevölkerung von Delhi Zugang zu gewissen Hygienestandards entsprechenden Sanitäranlagen hat. Mein indischer Freund Tarun würde erklären, dass Indien die größte Demokratie der Welt ist und großen Wert auf die Freiheit des Einzelnen lege. Was somit die Freiheit miteinschließt, sich wo und wann man will zu erleichtern. An diversen Feiertagen der diversen Religionen herrscht allerdings Dry Day, sprich die Freiheit, Alkohol zu kaufen oder zu trinken, ist aufgehoben, egal welche oder ob man überhaupt eine Religion hat. Tarun übrigens ist ein Ingenieur in meinem Alter, der in Deutschland wie den USA Brückenbauprojekte berät und die Welt mit seinem Selfie-Stick bereist. Wir lernten uns im Flugzeug nach Delhi kennen, unterhielten uns darüber, wie sehr wir die Mittelalter-Sex-and-Crime-Serie Game of Thrones mögen und wie bedenklich wir den internationalen Rechtsruck erachten, ehe er mir erzählte, dass er seine Frau vor der Hochzeit nicht kannte, da die Familien die Ehe arrangiert hatten. Ob er das gewollt hatte, fragte ich vorsichtig, woraufhin er schallend lachte. Natürlich, gab er zurück, dies sei schließlich der beste Weg, um innerhalb der Kaste zu heiraten, und ich nickte, als würde ich verstehen. Genau so, wie ich vor wenigen Tagen einem Elefanten zunickte, der bei Rot seelenruhig über eine vielbefahrene Kreuzung spazierte. Man muss nicht alles verstehen, manchmal reicht es, einfach zu staunen.

vea.kaiser@kurier.at

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