Existiere ich überhaupt noch, wenn ich nicht erreichbar bin?

Wo liegt eigentlich der See, wo die ganze gewonnene Zeit hinrinnt? Theoretisch müsste ich Hektoliter über haben. Ich muss keine Brieftauben mehr streicheln, um sie für ihre Zustelldienste zu motivieren. Nicht mehr in staubigen Archiven für meine Recherchen herumturnen, sondern kann mir die Welt googeln. Nicht mehr mein Powerhouse an Proseccostellen aktivieren, um den Zufall zu kitzeln und Menschen kennenzulernen. Nein, mit der Gesichtsbücherei kann man sich Freunde quasi catern lassen. Und außerdem dabei bequem in für das bebaute Gebiet nicht kompatiblen Outfits flirten. Ich habe einen Abwesenheits-Assistenten auf meinem Mail-Account, der die Menschheit um Verständnis bittet, wenn ich im Kommunikations-Off bin. Und was tue ich Zeitmanagement-Dilo? Ich schlendere nicht durch die Praterauen, meditiere vor Goyas oder lese Tolstoi. Nein, ich schleiche mich durch meinen Posteingang, um zu checken, wem ich gerade nicht antworten möchte. Ich poste entzückend sinnlose Dinge auf Facebook und bin beleidigt, wenn die „Gefällt-mir“-Daumen von überschaubarer Schütterkeit sind. Ich kriege Panikschübe, wenn ich mein Körpertelefon zu Hause vergessen habe. Wird/kann die Welt sich weiter drehen, wenn ich meiner Jeansklinik nicht antworten kann? Existiere ich überhaupt noch, wenn ich nicht erreichbar bin? Im März mache ich ein gewagtes Selbstexperiment. Ich gehe einen Monat lang in eine fremde Stadt, wo ich kaum jemanden kenne. Gut möglich, dass mich diese Überdosis an Selbstbestimmung überfordert und ich eine Zeit-Allergie oder Anti-Stress-Intoleranz aufreiße. Und was, wenn die Selbstfindung damit endet, dass ich mein Selbst nicht sympathisch finde? Nicht einmal auf eine Limonade mit ihm gehen möchte? Sie werden es an dieser Stelle erfahren.

Ob Sie wollen oder nicht.

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