Gelassenheit 2.0
Heute bin ich hauptberuflich Familien-Chauffeur.
Idole tatsächlich zu treffen, ist oft eine äußerst deprimierende Angelegenheit. So geschehen bei Patricia Highsmith und Lou Reed, die ich beide äffisch verehrte, und die sich bei den Interviews als misanthropische Grant-Koryphäen erster Güte erwiesen und einem das Gefühl vermittelten, dass man sie bestenfalls tödlich langweilte. Dementsprechend nervös war ich, als Harald Schmidt bei unserem Literatur-Festival in der „Anstalt“, wie wir das so lauschige Vöslauer Thermalbad nennen, eintrudelte. Harald Schmidt vergötterte ich nicht nur, weil er das Medium Fernsehen mit den Mitteln der Anarchie und der lustvollen politischen Unkorrektheit („Ich bin's, eure Mediennutte!“) demontiert hatte, sondern auch, weil er dabei immer völlig unangestrengt wirkte. Ich habe noch nie so einen rundum entspannten, allürenfreien, jovialen Menschen aus dieser Liga getroffen: „Ich bin der stressfreiste Künstler, seitdem Helmut Berger eine Bühne betreten hat.“ Parierte alle „Mach' ma a Sölfie“-Attacken und „Hearn S’, i kenn Ihna vom Fernsehen!“ der lokalen Fans mit herzlicher Höflichkeit, fand das Ambiente so „ultimativ Joseph Roth“ und beantwortete die Fragen nach den Entzugserscheinungen im selbst auferlegten Zoten-Zölibat so: „Ich habe mir einfach irgendwann angewöhnt, dass mir alles wurscht ist. Heute bin ich hauptberuflich Familien-Chauffeur. Ich habe unlängst sogar meine Mutter in die Kuranstalt gefahren.“ Diese Form an anarchistischer Gelassenheit gilt es ab sofort an oberster Stelle auf die To-do-Liste zu schreiben. In einer Zeit, in der der hysterische Beweisnotstand im Wettbewerb um das aufregendste Leben auf allen zur Verfügung stehenden digitalen Kanälen tobt, fasziniert eine solche zenbuddhistische Lebenseinstellung wie eine äußerst exotische Pflanze. Ich geh jetzt einmal ins Sölfie-Zölibat. Die erste OM-Leitung in Richtung Gelassenheit 2.0.
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