Wenn sich der Rechtsstaat abschafft
Bei Österreichs EU-Beitritt dachten viele, dass wir dadurch – weil von sicheren Drittstaaten umgeben – nie wieder ein Flüchtlingsproblem haben könnten. Das EU-Recht (Dublin-Regeln) sollte uns davor bewahren, aber das funktionierte nicht.
Das Vertrauen in die EU, die sich selbst als „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ definiert, musste darunter leiden. Diese Misere hat nichts mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zu tun. Sie ist in Österreich verfassungsrechtlich abgesichert, wer daran rüttelt, schadet auch seinen eigenen Grund- und Freiheitsrechten. Die jüngste Kritik an der EMRK erfolgte ja genau genommen deshalb, weil sie funktioniert.
Der Kern des Problems liegt im Regelwerk der EU, das jedem Asylwerber auch in aussichtslosen Fällen ein Recht auf ein Verfahren gibt, dessen konkrete Ausgestaltung jedoch – bis hin zu Schnellverfahren an der Grenze – frei ist, solange dabei rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt bleiben.
Österreich agiert hier – im Gegensatz zu manch anderen EU-Staaten – rechtsstaatlich betont korrekt, schöpft derzeit mit Rücksicht auf die EU und seine Nachbarstaaten seine eigenen rechtlichen Möglichkeiten aber nicht aus und leidet deshalb besonders unter den illegalen Grenzübertritten.
Dem Innenminister ist es nun offenbar gelungen, das Verständnis der EU-Kommission dafür zu wecken, dass Österreich nicht länger der „Deschek“ bleiben kann.
Bei der Bevölkerung bleibt jedoch Enttäuschung, auch darüber, dass Asylwerber und Migranten nach glaubhaften Berichten unkontrolliert und ohne Fahrschein in Zügen durch Österreich fahren, auch unter Inanspruchnahme von Sitzplätzen, die andere – auf Empfehlung der ÖBB – gegen Bezahlung reserviert hatten.
Die Zugbegleiter, die erst vor wenigen Jahren auf Druck der Gewerkschaft durch einen eigenen Straftatbestand (§ 91a StGB) geschützt wurden, um besser für Ordnung sorgen zu können, sind oft nicht Herr der Lage. Ergebnis: Das Faustrecht an der Grenze setzt sich in den Zügen fort.
Bei den Betroffenen bleiben Frustration über die Recht- und Machtlosigkeit und der Verlust des Vertrauens in die Institutionen, die eigentlich die Wahrnehmung eigener Rechte garantieren sollten. Der Ärger darüber wird noch größer, wenn man diesen rechtlosen Zuständen als Kontrast die konsequente Abschiebung von seit Jahren gut integrierten Personen in ihre – wohlgemerkt sicheren – Herkunftsländer gegenüberstellt.
Im zuletzt Aufsehen erregenden Fall einer georgischen Schülerin argumentierte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl damit, dass „in einem Rechtsstaat nicht akzeptiert werden könne, dass man durch rechtswidriges Verhalten Vorteile erhalte“.
Das ist richtig, hat aber immer und überall zu gelten, an den Grenzen genauso wie im Inland bei diversen illegalen Spontandemos, Flashmobs, Klebeaktionen und mutwilligen Sachbeschädigungen, aber natürlich auch auf EU-Ebene. Andernfalls leidet das Vertrauen in den Rechtsstaat und seine Institutionen.
Wer hier nicht gegensteuert, darf sich nicht wundern, wenn radikale Kräfte immer stärker werden.
Wolfgang Brandstetter ist ehemaliger österreichischer Justizminister und Vizekanzler.
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