Standort-Alarm
Unsere wirtschaftliche Zukunft steht an einem kritischen Wendepunkt. Wir sollten nicht darauf warten, dass die KTM-Produktion vollständig nach Indien oder China verlagert wird. Jetzt ist der Moment, aktiv neue Standortvorteile zu entwickeln – denn die traditionellen Wettbewerbsfaktoren greifen nicht mehr, wie man an der Automobilindustrie erkennen kann: Der fatale Managementfehler deutscher Autokonzerne, die Elektromobilität zu verschleppen, wirft lange Schatten auf österreichische Zulieferbetriebe.
Eine ASCII-Studie belegt die erschreckende Abhängigkeit: Jährlich produziert die heimische Autoindustrie Waren im Wert von 28,5 Milliarden Euro, wobei 65 Prozent nach Deutschland exportiert werden. 135 österreichische Unternehmen beliefern VW-Werke, 6.300 Arbeitsplätze hängen direkt von VW-Aufträgen ab. Was geschieht, wenn die Auslastung deutscher Werke in Zwickau oder Emden aufgrund zu hoher Produktionskosten kollabiert?
Die traditionellen Vorteile bröckeln dramatisch: Steigende Lohnstückkosten, die Energiepreise und der Fachkräftemangel schwächen uns. Das einst stolze österreichische Markenzeichen der Qualität hat sich überholt. Chinesische Hersteller bieten innovative Produkte zu Preisen, die unsere bisherigen Wettbewerbsstrategien fundamental in Frage stellen. Unsere iPhones kommen zunehmend aus Vietnam und Indien.
Ein Ausweg kann in einer radikalen Produktivitätsstrategie liegen. Während die Löhne um 20 Prozent gestiegen sind, stagniert die Arbeitsproduktivität seit Jahren – ein Befund des Economica-Instituts, der zum Handeln zwingt. Die Schlüsseltechnologie heißt Künstliche Intelligenz. Bis zu einem Drittel der Arbeitsstunden könnte KI übernehmen und Beschäftigte für höherwertige Aufgaben freispielen. Das Ergebnis wäre eine Wertschöpfungssteigerung von 18 Prozent innerhalb eines Jahrzehnts.
Während große Unternehmen 2024 bereits massiv in KI investieren und Effizienzgewinne realisieren, zögern viele kleine und mittlere Unternehmen noch. Dabei bietet KI gerade für KMUs enorme Chancen – wer jetzt einsteigt, sichert sich entscheidende Wettbewerbsvorteile. Die Investition liegt nicht in teurer Hard- oder Software, sondern in der strategischen Entscheidung zur Weiterbildung. Was Österreich wirklich voranbringen würde, sind mehr Fachkräfte mit KI-Kompetenzen.
Oberflächliches Krisenmanagement greift zu kurz. Wir brauchen eine mutige, systemische Politik, die Bildung, Wirtschaft und Technologie neu denkt. Ein nationaler Masterplan muss KI als Wachstumschance begreifen – nicht als Bedrohung, sondern als Chance zur Transformation. Die neue Regierung steht vor der historischen Aufgabe, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen. Es geht um nichts Geringeres als die Neuerfindung des Standorts Österreich, bevor andere Länder uns die Zukunft definieren.
Christoph Becker ist Geschäftsführer des österreichischen Bildungsanbieters ETC.
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