Spitzenkandidat? Nein, danke!

Spitzenkandidat? Nein, danke!
Woran es liegt, dass es derzeit Absagen für die EU-Wahl hagelt. Ein Gastkommentar von Stefan Brocza.

Bei den Europawahlen im Juni 2024 hat Österreich 20 Mandate zu vergeben. Zuletzt konnte man den Eindruck gewinnen, dass sich kaum qualifiziertes Personal dafür finden lässt. Bei der Frage, wer denn als Spitzenkandidat für seine Partei nach Straßburg und Brüssel geht, hagelte es zuletzt Absagen. Edtstadler, Schallenberg, Plakolm bei der ÖVP, Gewessler bei den Grünen. Woran mag das liegen?

Hieß es früher noch verächtlich „Hast du einen Opa, schick ihn nach Europa“, hat sich die politische Einbahnstraße EU längst als Trugschluss herausgestellt. In den letzten Jahren haben immer wieder Europaparlamentarier den Sprung auf Regierungsämter geschafft: Elisabeth Köstinger wurde Landwirtschaftsministerin, Jörg Leichtfried zuerst Landesrat in der Steiermark und dann Infrastrukturminister in Wien, zuletzt auch Simone Schmiedtbauer, die für die ÖVP aus dem Europaparlament in die steirische Landesregierung wechselte. Selbst der Wechsel aus der Innenpolitik in die EU und retour ist möglich: Karoline Edtstadler wechselte 2019 als Staatssekretärin ins Europaparlament und nach dem neuerlichen Wahlsieg der ÖVP als Verfassungsministerin zurück nach Wien.

Warum also scheut man jetzt plötzlich Europa? Zuallererst wohl deshalb, weil es bei der kommenden Europawahl nichts zu gewinnen, aber viel zu verlieren gibt. Die ÖVP wird nach dem Abgang von Othmar Karas und angesichts nicht berauschender Umfragewerte mit heftigen Verlusten zu rechnen haben. Da will man nicht unbedingt sein Gesicht auf den Wahlplakaten sehen und in der Folge mit der wohl größten Wahlniederlage der ehemaligen Europapartei ÖVP so offensichtlich in Verbindung gebracht werden. Bei den Grünen kommt zu den ebenfalls nur mauen Umfragewerten ein weiterer, persönlicher Aspekt hinzu: Klimaministerin Leonore Gewessler hatte bis zuletzt gehofft, als Spitzenkandidatin der europäischen Grünen aufs Schild gehoben zu werden. Nachdem sich dieser Traum in Luft aufgelöst hat, hat sie sich gleich ganz zurückgezogen.

Die ebenfalls anstehende Nationalratswahl mag ein weiterer Grund für so manchen potenziellen EU-Spitzenkandidaten sein, sich bedeckt zu halten. Einige derer, die jetzt abgesagt haben, hoffen offenbar – in welcher Konstellation auch immer – auf ein neuerliches Regierungsamt. Vielleicht sollte man es sich noch mal überlegen: Monatlich fast 10.000 Euro Gehalt, fast 30.000 Euro monatlich, um Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anzustellen, dazu kommen eine allgemeine monatliche Kostenvergütung von 5.000 Euro, Reisekostenübernahme, pro Sitzungstag in Brüssel oder Straßburg weitere 338 Euro etc., etc. Also an der Entlohnung und Zusatzleistungen sollte es nicht scheitern. Ganz zu schweigen davon, dass es eigentlich eine Ehre sein sollte, sein Land und seine Wählerinnen und Wähler in der EU vertreten zu dürfen.

Stefan Brocza ist Experte für Europarecht und internationale Beziehungen.

Kommentare