Shinzo Abes Tod als Symbol
Der Mord an dem japanischen Langzeitpremier Shinzo Abe ruft nicht nur in Japan Schock hervor: das Nicht-Akzeptieren-Können eines Ereignisses. Man will irgendetwas daran verstehen, wo es vielleicht nur die Tat eines einzelnen Verwirrten gibt. Das Erste, was mir Japanophilem in den Sinn kam, als ich die Nachricht vom Attentat hörte: Die Welt gerät aus den Fugen! Zu Covidkrise, Klimaerwärmung und Ukrainekrieg kam nun zusätzlich ein Mord in der friedlichsten aller Städte, in Nara, wo, wie mir meine Tochter Minuten nach Bekanntwerden des Attentats entgeistert schrieb, wir unter den verträumten Augen des größten Holzbuddhas der Welt Rehe gefüttert hatten – Symbol des nunmehr zerstörten Paradieses. Das Zweite, was mir in den Sinn kam, als ich die Nachrichten von der angeblichen Verflechtung der Familie des Ex-Premiers mit der sogenannten Moon-Sekte hörte, war das Bild von der heutigen Welt als einer absurden Abfolge von Tragikomödien.
Die Mutter des Attentäters soll einen Großteil des Familienschatzes der konservativen Vereinigungskirche gespendet und damit die Familie zerrüttet haben. Dass ein bedeutender japanischer Politiker sterben musste, weil eine Frau das Familiensilber an eine ursprünglich koreanische Organisation verschleuderte, ist gerade im Fall Abes eine besondere Ironie. Denn war es doch gerade Shinzo Abe, der zur Rückbesinnung, zur Re-Installation eines „schönen Japans“ aufforderte und dafür auch die Re-Militarisierung seines pazifistischen Landes beabsichtigte. Angesichts heutiger Herausforderungen kann diese Politik auch wieder anders gelesen werden.
Mehrmals hatte Abe als Premier China besucht, um das historische Zerwürfnis auf die Bahnen einer neuen Kooperation zu lenken, wie es dem übergreifenden Kulturraum aus China, Korea und Japan nur zu gut anstehen würde. Doch zeigte er sich in den letzten Jahren angesichts der immer aggressiver auftretenden Politik des größeren Nachbarstaats bitter enttäuscht. Anfang dieses Jahres rief er darum sogar die USA zu einer Solidarisierung mit dem von China bedrohten Taiwan auf.
Ich möchte das, wofür hier Abe als politisches Symbol steht, „zur Deutlichkeit entstellen“: Japan sieht seine Situation angesichts Chinas so wie manche ost-europäische Staaten, die das Großmachtstreben des russischen Staates fürchten. Und so wie Abe ruft man hierorts aus Selbstschutz nach Wiederbewaffnung und NATO.
Shinzo Abe, dem seine verbliebenen Lebensjahre so brutal geraubt wurden, konnte sich seine deutlichen Worte leisten. Denn zugleich mit seinem Geschichtsrevisionismus öffnete er paradoxerweise Japan den südost-asiatischen Ländern. Eine derartige Kooperation, so seine Vision, könnte ein Gegengewicht zu China bilden und für Stabilität in der ganzen Region sorgen. In den Dreißigerjahren, als politische Morde in Japan an der Tagesordnung waren, hatte dies noch geheißen: „Südostasiatische Wohlstandssphäre unter japanischer Hegemonie“.
Achtzig Jahre später begrüßt man eine ähnliche Idee, aber ohne hegemonialen Anspruch eines Einzelnen. Für diesen, wohl notwendigen Balanceakt wird Shinzo Abe auch in Zukunft stehen.
Diethard Leopold war zehn Jahre lang Präsident der Österreichisch-Japanischen Gesellschaft.
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