Sexualisierte Gewalt an Kindern: Was Heilung behindert

Sexualisierte Gewalt an Kindern:  Was Heilung behindert
Wer empört in Kampfstellung geht, löst nicht das gesellschaftliche Problem. Ein Gastkommentar von Rotraud Perner.

Immer wieder wird behauptet, das seelische Leid sexuell missbrauchter Kinder dauere ein Leben lang. Das ist unwahr. Es geschieht dann, wenn diese Fremd- und in der Folge oft Selbstdefinition mental – d. h. im Geflecht der Nervenzellen – verankert wird. Und diese Vernetzung lässt sich mit ganz bestimmten psychotherapeutischen Methoden verändern, auflösen und neu verknüpfen, denn Sprache hat suggestive Wirkkraft: je mehr sie mit heftigen Gefühlen verstärkt wird, umso nachhaltiger.

Wenn voll Empörung über sexualisierte Gewalt an Kindern „Kampfstellung“ bezogen wird, verschreckt man eher die Ohnmächtigen und oft auch ihre Angehörigen, nur das gesellschaftliche Problem löst man damit nicht: Man fixiert die Betroffenen auf den Opferstatus anstatt ihnen zu helfen, das Erlebte so zu verarbeiten, dass es als Baustein künftiger Widerstandskraft genutzt werden kann. In der englischsprachigen Fachwelt wird der Begriff Opfer vermieden, denn Opfer sind tot oder zum Tod bestimmt. Stattdessen verwendet man das Wort Überlebende oder – bei Erwachsenen – AMACS: adults molested as child. So kann man auch die Leistung anerkennen, sich aus der (möglicherweise gezielt „vernebelten“) Zwangslage wieder aufgerichtet zu haben. Umgekehrt sind Worte wie „unentschuldbar“ oder „unverzeihlich“ unwahre Dogmatismen: alles kann entschuldigt oder verziehen werden – aus welchen Gründen auch immer, edlen oder heuchlerisch-strategischen.

Wer wirksam die eigene Meinung kundtun will, muss subjektiv formulieren: „ich halte nichts von …“ und dann konkretisieren. So schaut man genau auf das Gegenüber und ins eigene Innere. Das ist ein „Beziehungsangebot“. Voraussetzung, dass Menschen – egal wie alt sie sind – die „in Beziehung“ geschädigt, verletzt, „verstört“ wurden, wieder heil werden können, ist ein wertschätzender Umgang mit ihnen – ohne sie für die eigene Gloriole als „sensible Retterschaft“ neuerlich zu missbrauchen.

„Heil“ im Sinne von „gesund“ ist nach C. G. Jung der. „ganze“ – Mensch, der seine Körperempfindungen, Gefühle, Phantasien und Gedanken gleichzeitig wahrnimmt und so seine Willensentscheidungen steuern kann – indem bewusst verzichtet wird, Phantasien in die Tat umzusetzen. Voraussetzung ist nur, spontane Erregung, Empörung etwa – oder Mangel an Erregung! – bei sich selbst zu registrieren wie auch die geistigen Bilder, die sie auslösen (oder die vormals durch Zuschauen, auch bei Filmen etc., ausgelöst wurden). Das braucht nicht einmal eine Sekunde – und ist trainierbar.

Im Psychoboom der 1970er-Jahre war vielfach Ziel, die in den Jahren vorher überdisziplinierten Menschen zu Spontanhandlungen zu ermutigen – auch zu sexuellen. Heute gilt es, das damals verachtete Vernunftdenken zu rehabilitieren. Sprachsensible Psychotherapie hilft dabei. Sie gehört als pädagogische Kompetenz bereits in den primären Sprachunterricht.

Rotraud Perner ist Juristin und Psychoanalytikerin und war als Universitätsprofessorin für Prävention und Gerichtssachverständige für Psychotherapie tätig

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