Probleme beim Lesen: Eine andere Bildungspolitik
Fast ein Drittel der Erwachsenen (1,7 Millionen) in Österreich hat im Alltag gravierende Probleme beim Lesen. Das bedeutet im Vergleich zur letzten PIAAC-Studie einen Anstieg um 700.000 Personen. Die absolute Mehrheit der Betroffenen ist in Österreich geboren bzw. spricht Deutsch als Erstsprache. Das ist nicht nur ein Schaden für die Volkswirtschaft, sondern auch ein Problem für die Demokratie. Sofort müssen daher Anstrengungen im Bereich der Grund- bzw. Basisbildung für Erwachsene erhöht werden. Mit „Level Up – Erwachsenenbildung“ liegt bereits ein Modell vor, das Basisbildungskurse erfolgreich umsetzt. 100 Mio. Euro pro Jahr – z. B. lediglich zwei bis drei Prozent des Hochschulbudgets – würden die bestehenden Maßnahmen vervielfachen und die Bildungsträger von ihren Finanzierungsängsten befreien. Des Weiteren braucht es eine groß angelegte Sensibilisierungskampagne, die mit der Tabuisierung von Leseschwäche und der Stigmatisierung der Betroffenen aufräumt.
Auffällig ist darüber hinaus, dass seit vielen Jahren bestimmte Länder wesentlich besser als Österreich abschneiden. Was machen sie besser als wir? Die gemeinsame Schule bis (zumindest) zur 9. Schulstufe ist ein offensichtlicher Unterschied zwischen Österreich und den meisten Industriestaaten, darunter auch Finnland. In Kombination mit anderen Maßnahmen ist das finnische Schulsystem aktiv darum bemüht, Ungleichheiten aufgrund sozialer Herkunft zu reduzieren. Verhindert werden soll damit auch ein „Abhängen“ bestimmter Gruppen.
Lebenslanges Lernen hat in Finnland einen hohen Stellenwert. Offene Universitäten und Volkshochschulen mit einem multidisziplinären Fokus sind ein selbstverständlicher und geschätzter Teil des Bildungssystems.
Österreich verfügt ebenfalls über ein dicht geknüpftes Netz gemeinnütziger Erwachsenenbildungseinrichtungen, zu denen die Volkshochschulen gehören. Angebote, die gut erreichbar, zeitlich flexibel und kostengünstig sind, motivieren Zehntausende zur Teilnahme an Bildung. In der staatlichen Bildungspolitik spielt dieses Netz allerdings eine untergeordnete Rolle. Lebenslanges Lernen wird hier stark auf den Erwerb spezifischer beruflicher Kompetenzen reduziert. Wichtige bildungspolitische Herausforderungen liegen aber jetzt woanders.
PIAAC muss daher zu einer Wende in der Bildungspolitik führen. Zu den Hauptmotiven, warum sich Erwachsene weiterbilden wollen, gehören die Entwicklung persönlicher Interessen und Kompetenzen oder schlichtweg der Wunsch, Spaß zu haben bzw. neue Menschen kennenzulernen. Die Bildungspolitik muss diese Motive aufgreifen, auch im Rahmen von Förderungen, Stipendien oder der Bildungskarenz. Zumindest wenn man gerade jene erreichen möchte, die im Moment schwer für die Teilnahme an Bildungsprozessen zu gewinnen sind.
John Evers ist Generalsekretär des Verbandes österreichischer Volkshochschulen
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