Ist das der Durchbruch für KI?
OpenAIs neues KI-Modell o1 verspricht, die Grenzen Künstlicher Intelligenz zu verschieben. Anders als herkömmliche KI-Modelle, die oft schnelle, aber oberflächliche Antworten liefern, ist o1 darauf trainiert, sich Zeit zu nehmen und Probleme sorgfältig zu zerlegen. Diese Methode der „Gedankenketten“ ermöglicht es dem System, komplexe Aufgaben in logische Teilschritte zu gliedern und so zu präziseren Lösungen zu gelangen. Kyle Kabasares, ein Physiker vom NASA Ames Research Center berichtet, dass o1 in einer Stunde das geschafft hat, wofür er während seiner Promotion fast ein Jahr gebraucht hat. So könnte o1 auch in Bereichen wie Zellsequenzierung oder Quantenoptik große Fortschritte ermöglichen.
Dem Modell wird zwar ein IQ von 120 zugeschrieben, das heißt aber nicht, dass es denken kann, wie das Marketing glauben machen will. o1 macht immer wieder Fehler, vor allem bei neuartigen Fragen. In einem Test, der echtes abstraktes Denken bei KI misst, schneidet es ähnlich schlecht ab wie die Vorgänger. So begeistert die Nutzer von o1 bei Codierung, Mathematik und wissenschaftlicher Forschung sind, so enttäuscht sind jene, die o1 zum Schreiben oder für Marketingaufgaben verwenden. Hier ist GPT-4o immer noch besser.
Der Ansatz überprüfbarer „Gedankenketten“ hinter o1 ist hochgradig spannend. Probleme geduldig und Schritt für Schritt maschinell zu lösen, könnte in vielen Bereichen zu tieferen Erkenntnissen führen. Doch Nutzer sehen nur das Endergebnis, nicht aber den „Denkprozess“ von o1. Das erschwert nicht nur die unabhängige Überprüfung der Leistungsfähigkeit, sondern verhindert auch, dass Nutzer wie Schüler und Studenten von Zwischenschritten lernen können. OpenAI begründet diese Intransparenz mit dem Schutz vor Konkurrenz und ahndet Versuche, die Funktionsweise von o1 zu untersuchen, mit Sperrdrohungen.
Doch um das volle Potenzial von KI-Tools auszuschöpfen, müssen Anwender die Denkprozesse der KI verstehen und nachvollziehen können. Nur so können sie der KI beim „Denken“ zuschauen und dadurch selbst weiterlernen. Die Möglichkeit, die Zwischenschritte der KI-Analyse zu sehen, könnte ein mächtiges Lernwerkzeug sein, das Nutzer befähigt, komplexe Probleme selbst strukturierter anzugehen. So kann KI auch kritisches Denken und innovative Ansätze fördern. Die Intransparenz des o1-Prozesses ist daher eine verpasste Chance für tiefgreifende Weiterbildung.
Mit o1 hat OpenAI eine dringend benötigte neue Einkommensquelle gefunden. Kunden zahlen für jedes von o1 generierte Wort den vierfachen Preis des GPT-4 Modells, wobei nicht nur die Wörter in der Antwort, sondern auch der gesamte verborgene Text der „Reflexion“ in Rechnung gestellt wird. OpenAI braucht dringend neue Investoren und eine Bewertung von 150 Mrd. Dollar. Da kommt ein vermeintlicher Durchbruch gerade recht.
Christoph Becker ist Geschäftsführer des österreichischen Bildungsanbieters ETC.
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