Niemand braucht ein noch größeres Europaparlament
Mitte Juni hat das Europäische Parlament vorgeschlagen, die Anzahl seiner Abgeordneten noch schnell vor der kommenden Europawahl im Juni 2024 um weitere 11 auf insgesamt 716 zu erhöhen. Spanien und die Niederlande sollen demnach je zwei zusätzliche Sitze bekommen, Österreich, Dänemark, Finnland, Slowakei, Irland, Slowenien und Lettland jeweils einen zusätzlichen Abgeordneten.
Mit seinen aktuell 705 Abgeordneten ist das Europaparlament schon heute das drittgrößte Parlament der Welt. Nur das chinesische Parlament (über 2.000 Abgeordnete) und der Deutsche Bundestag (736) haben aktuell mehr Abgeordnete. Selbst die USA kommen mit 435 Abgeordneten aus. Nur in der EU glaubt man, über 700 Parlamentarier seien nötig, um die Illusion eines Parlaments aufrecht zu erhalten. Denn es wird gern vergessen: Das Europaparlament ist gar kein vollwertiges Parlament.
2014 hat der deutsche Bundesverfassungsgerichtshof bereits festgestellt, dass das Europaparlament „ein Parlament eigener Art“ sei. Die Gründe dafür liegen im Europarecht: So hat das Europaparlament etwa bis heute kein einheitliches Wahlrecht. In den 27 Mitgliedstaaten werden die jeweiligen Europaabgeordneten nach nationalen Regeln gewählt, es gelten unterschiedliche Mindestalter und unterschiedliche Sperrklauseln.
Selbst auf einen einheitlichen Wahltag hat man sich bis heute nicht geeinigt. So findet die nächste Wahl irgendwann zwischen 6. Und 9. Juni 2023 statt. Dies alles hält die Abgeordneten des Europaparlaments aber nicht davon ab, in eine unbeschreibliche Selbstherrlichkeit zu verfallen, sobald sie einmal ihre Sitze in Straßburg und Brüssel eingenommen haben. Mit dem Anspruch ausgestattet, man sei ja immerhin das einzig „direkt gewählte“ Organ der EU, entwickelt das Europaparlament eine ungeahnte Eigendynamik. Statt sich des ursprünglichen Auftrags bewusst zu sein und ein maßvolles Korrektiv zu den Mitgliedstaaten in der EU darzustellen, versteht sich das Europaparlament zunehmend als unkontrollierter Vorantreiber der europäischen Integration. Am lautesten gibt sich das Parlament übrigens in all jenen Bereichen, in denen es gar keine Zuständigkeit hat. Da wird dann die NATO aufgefordert, gefälligst die Ukraine aufzunehmen oder – wie zuletzt etwa – die Vereinheitlichung des Sexualstrafrechts in den EU-Mitgliedstaaten in Angriff genommen. Alles, ohne dafür rechtlich auch nur im Ansatz zuständig zu sein.
Das Europaparlament hat die ihm zugedachte Rolle und Funktion im Gleichgewicht der europäischen Institutionen längst verlassen. Warum man dafür jetzt auch noch mehr Abgeordneten bekommen sollte, ist schleierhaft. Stattdessen sollte man über eine spürbare Verkleinerung nachdenken. Die Hälfte der Abgeordneten würde zur Erledigung der Aufgaben auch ausreichen.
Stefan Brocza ist Experte für Europarecht und internationale Beziehungen.
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