Neutralität, Moralität und der Krieg in der Ukraine

Neutralität, Moralität und der Krieg in der Ukraine
Für die USA gilt immer: Gut gegen Böse

von Wendelin Ettmayer

Der Sieg im Kalten Krieg bestärkte das Sendungsbewusstsein der USA. Die außenpolitischen Eliten des Landes waren und sind davon überzeugt, dass Amerika eine auserwählte Nation ist, dazu bestimmt, die Welt zu führen. Unter Führung der „Neokonservativen“ wurde in Europa eine internationale Ordnung nach den Vorstellungen der USA und gegen Russland aufgebaut. Russische Interessen bzw. russische Vorschläge für Verhandlungen wurden „nicht einmal ignoriert“.

Somit kam Clausewitz (1780–1831) zum Tragen, wonach „der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ ist. Die seit 2014 im Donbass ausgetragenen Kämpfe wurden durch den russischen Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 zu einem Krieg ausgeweitet. Dabei wäre der ukrainische Präsident Selenskyj damals noch bereit gewesen, einen neutralen Status für sein Land zu akzeptieren. Der Westen war dagegen.

Gleichzeitig setzte die volle westliche Propaganda vom „unprovozierten russischen Angriffskrieg“ ein. Wie sich doch die Zeiten ändern. Als die Sowjetunion 1962, nur 100 Meilen von der amerikanischen Küste entfernt, Raketen auf Kuba aufstellte, verlangte Präsident Kennedy deren sofortigen Abzug. Die Gefahr eines Atomkrieges stand im Raum. Ein jeder verstand, dass der amerikanische Präsident amerikanische Interessen vertreten musste. Würden Mexiko oder Kanada heute ein Militärbündnis mit China oder Russland eingehen, würde Washington wieder so handeln.

Nun hat Österreich, als Gegenleistung für die Wiedererlangung seiner vollen Souveränität durch den Staatsvertrag 1955 den Status der immerwährenden militärischen Neutralität gewählt. Heute verlangen viele, diese Neutralität aufzugeben, weil es doch unmoralisch wäre, angesichts eines „Angriffskrieges“, sich nicht dagegen auszusprechen.

Tatsächlich liegt die derzeitige westliche Propaganda, was den Krieg in der Ukraine betrifft, ganz auf der Linie der amerikanischen Tradition: ein jeder US-Krieg ist ein Kampf des Guten gegen das Böse; zwischen Freiheit und Diktatur; zwischen Moral und Unmoral. Der russische Präsident Putin wird seit Jahrzehnten dämonisiert, die Ukraine wird als perfekte Demokratie dargestellt, die es zu schützen gilt. Gleichzeitig wird uns eingehämmert: wenn nicht die gute Seite gewinnt, ist die ganze Welt in höchster Gefahr. Wer nicht mit tut, ist ein „Trittbrettfahrer“. Tatsächlich geht es beim jährlichen US-Militärbudget von 850 Milliarden Dollar nicht um Sicherheit, sondern um die weltweite Vorherrschaft der USA. Das ist durchaus erlaubt, es muss aber auch erlaubt sein, das zu hinterfragen. Der Westen hat die Ukraine davon abgehalten, die Neutralität zu wählen. Hunderttausende mussten dafür ihr Leben lassen. Kann diese Haltung des Westens moralisch gerechtfertigt werden?

Dr. Wendelin Ettmayer ist ehemaliger Abgeordneter (ÖVP), Botschafter und Autor

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