Meinungsfreiheit allein ist nicht genug
Die Freiheit der Meinungsäußerung und ihre institutionelle Absicherung (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Artikel 19) zählen zweifelsohne zu den zentralen zivilisatorischen Errungenschaften unserer Zeit. Nichtsdestotrotz keimen heute sogar in westlichen Gesellschaften wie der unseren Zweifel auf, ob diese noch uneingeschränkt vorhanden sei – immerhin gerate sie von verschiedenen Seiten unter Druck: Trollfabriken drohten die sozialen Medien zu kontaminieren, Algorithmen den öffentlichen Diskurs zu kontrollieren und der Druck militanter Minderheiten mit teils absurden moralischen Forderungen ließe das Fundament vernünftiger Auseinandersetzung kollabieren.
So muss man Einschränkungen durch Cancel Culture und vergleichbare Phänomene wie Political Correctness oder „Wokeness“ keineswegs von oben herab als „moralische Panik“ abtun, wie Stanford-Professor Adrian Daub das kürzlich im Untertitel seines Buches nahelegt, sondern man kann diese sehr wohl als reale Gefahr anerkennen – und darin zugleich nur den Teil eines größeren Problems sehen. Erfahrungen aus dem Alltag lassen vermuten, dass in manchen Bereichen des öffentlichen Lebens nicht zu wenig, sondern zu viel frei geäußerte Meinung ein Problem darstellt. So hat spätestens die Corona-Pandemie vor Augen geführt, dass fehlende Meinungsfreiheit nicht unbedingt unser größtes Problem darstellt – im Gegenteil: Sogenannte „Schwurbler“ konnten unter ihrem Deckmantel gegen eine „Diktatur“ demonstrieren, fernab jeder gesicherten Grundlage ihren subjektiven Senf zu Fakten und Forschungsergebnissen abgeben sowie gänzlich ohne Scham auf Transparenten ihre Stammtischparolen zur Schau tragen.
Sogar Studenten fühlen sich auf den Schlips getreten, wenn auf die Frage, ob sie in schriftlichen Arbeiten ihre „kritische Meinung“ kundtun dürften, die Antwort lautet, dass dies zwar prinzipiell zulässig, aber im akademischen Kontext nur begrenzt von Belang sei. Vielen entgeht im anschließend aufkeimenden Tumult die Pointe, dass es wünschenswerter sei, auf der Basis sachlicher Argumente eine Position zu vertreten, sich dies aber vom Kundtun einer Meinung wesentlich unterscheide. Freiheit der Meinungsäußerung ist ein hohes Gut und weiterhin muss uneingeschränkt der Voltaire zugeschriebene Satz gelten: „Ich missbillige, was Sie sagen, aber ich werde Ihr Recht, es zu sagen, bis zu meinem Tod verteidigen.“
Zu oft mangelt es an der Bereitschaft zur argumentativen Auseinandersetzung, weil die Autorität der ersten Person einer „gefühlten Wahrheit“ zur Geltung verhelfen will und sie auf verletzte subjektive Gefühle empfindlicher reagiert als auf objektive Widersprüche zu jener Welt der Fakten, die naiven, pseudo-kritischen und pseudo-konstruktivistischen Relativierungen trotzt.
Paul Reinbacher arbeitet als Sozial- und Wirtschaftswissenschafter an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich in Linz
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