In die Pflicht genommen
Neben den zahlreichen Ungereimtheiten und Widersprüchen im Impfpflichtgesetz fällt vor allem auf, dass die viel beschworene Verhältnismäßigkeit, die Gebote der Angemessenheit und des Einsatzes des geringsten Mittels völlig unbeachtet geblieben sind. Darüber hinaus wurde dies in keiner Weise durch tatsächlich überprüfbare Datenerhebung und -auswertung bezüglich der Impfschäden sowie des Unterschiedes in den Übertragungsraten von Geimpften, Nicht-Geimpften und Genesenen belegt. Die überfallsartig anmutende Beschlussfassung hat den schon lange angebahnten Vertrauensverlust in die österreichische Politik befördert. Damit haben nicht allein sogenannte Randgruppen oder die Umtriebigkeit einer Oppositionspartei zur viel zitierten „Spaltung der Gesellschaft“ beigetragen. Auch wie Politik abseits von Corona seit Monaten in diesem Land gemacht wird, ist nicht dazu angetan, Vertrauen zurückzugewinnen. Die die Wissenschaft grundsätzlich auszeichnende Offenheit zu einem Dialog mit anderen Meinungen und Interpretationen von Fakten ist angesichts der Einseitigkeit, verschärft durch die nahezu permanent auftretenden gleichen Personen in den Medien, verloren gegangen. Erst langsam beginnen sich manche Experten die Einsicht wieder ins Gedächtnis zurückzurufen, dass wissenschaftliche „Wahrheit“ keinen dogmatischen Charakter aufweist, sondern allenthalben hypothetisch und fallibel ist. Auch die viel zitierte überproportionale Wissenschaftsungläubigkeit der österreichischen Impfskeptiker geht an der Wirklichkeit vorbei. Eine Impfung bedeutet nicht nur einen gravierenden Eingriff in die Leiblichkeit des Menschen und in seine Grundrechte, sondern umfasst ihn in seiner gesamten Existenz. Darum ist auch ethisch betrachtet die Freiwilligkeit zum Entschluss oder zur Ablehnung einer Impfung nicht suspendierbar. Die damit verbundene Risikoabwägung, die auch eine zwischen Nutzen und Schaden sein kann, darf ethisch nur mit einem Pflichtbegriff verbunden werden, der mit Selbstverpflichtung Hand in Hand geht, denn nur so bleiben Freiheit und Verantwortung gewahrt.
Eine von außen auferlegte Pflicht lässt sich jedenfalls aus ethischer Perspektive nicht rechtfertigen, ohne dabei die Verantwortung aufzuheben. Ähnliches gilt auch für die immer wieder beschworene Solidarität, die keine Einbahnstraße darstellt, sondern auf Wechselseitigkeit beruht. Darum muss der viel zitierte Satz „Meine Freiheit findet ihre Grenze an der Freiheit des anderen“ ergänzt werden um: „Die Freiheit des anderen findet ihre Grenze an meiner Freiheit.“ Ein Dialog, der auf „Überzeugen“ gegründet ist, ist kein Dialog. Daher schwingt in allen Aufforderungen in diese Richtung der Aspekt der Nötigung mit.
Peter Kampits ist stellvertretender Vorsitzender der Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt.
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