Gesellschaftliche Geduldsprobe
Nach einem herrlichen Herbst bietet nun auch der Winter hervorragende Gelegenheiten für Berg- und Skitouren. Diese zu unternehmen ist eine private und persönliche Entscheidung, sodass es jedem freisteht, auch unvorbereitet in alpines, auch ungesichertes Gelände aufzubrechen – unabhängig davon, was die Vernunft gebietet. Jene, die sich damit brüsten, vermeidbares Risiko bei vollem Verstand einzugehen, sollten aber bereit sein, ihrer persönlichen Entscheidung treu zu bleiben. Also auch, wenn als Folge ihres Handelns die absehbaren Risiken schlagend werden, und in eine Notsituation geraten.
Sicherheit ist nirgends und unvorhersehbare Gefahren lauern trotz bester Vorbereitung hinter allen Ecken. Dafür haben wir aus gutem Grund umfangreiche soziale Sicherungssysteme etabliert. Aber bei Fahrlässigkeit sieht die Sache (nicht nur rechtlich) anders aus. Deswegen ist es ärgerlich, wenn Menschen einerseits die Covid-19-Impfung verweigern und dies mit Verweis auf ihre gesunde Ernährung, ihr gutes Immunsystem etc. als private und persönliche Entscheidung zu tarnen versuchen, sie jedoch im Fall des schlagend werdenden Risikos, also im Fall einer Infektion sehr wohl das Gesundheitssystem in Anspruch nehmen (wie jüngst in Oberösterreich der Fall): Während sie stolz darauf sind, sich – vermeintlich – ihrer Verstandes zu bedienen, um mündig, frei und eigenverantwortlich zu handeln, sind andere die Leidtragenden. Es ist an dieser Stelle nicht einmal notwendig, den Kant’schen kategorischen Imperativ zu bemühen, um zu erkennen, dass in Zusammenhang mit der Pandemiebewältigung die Rechte und die Pflichten des Einzelnen sowie jene der Gesellschaft längst in eine problematische Schieflage geraten sind. Es stellt sich aber sehr wohl die Frage, wann der gesellschaftliche Geduldsfaden reißt, und vor allem, wann im Gesundheitssystem die Folgen vorsätzlicher Selbstgefährdung auf den Intensivstationen der Spitäler nicht mehr automatisch in gut gemeinter Solidarität mit Fremdgefährdung beantwortet werden (können).
Während die politisch Verantwortlichen hierzulande lange unschlüssig schienen, wie auf diesen gemischten Satz an Motiven am besten zu reagieren sei, stehen nun einerseits „Impflotterien“ hoch im Kurs und andererseits nicht nur moralisch, sondern auch gesetzlich abgesicherte „Impfpflichten“ zur Debatte. Mit diesen letztlich irrationalen (Lotterie) und infantilen (Strafe) Strategien mag es zwar gelingen, den Druck auf Impfunwillige sowie im weiterer Folge die Impfquote zu erhöhen (was sicher kein Nachteil ist). Aber eine sachliche, argumentative Auseinandersetzung wird damit wohl nicht gefördert. Außerdem ist zu beachten, dass insbesondere negative Sanktionen ein zweischneidiges Schwert darstellen, da sie sich unter Umständen als „Preis“ für gewähltes Verhalten interpretieren lassen, und damit dieses Verhalten (scheinbar) legitimieren – wie beim Falschparken oder im genannten Beispiel riskanter sportlicher Aktivitäten.
Paul Reinbacher arbeitet als Sozial- und Wirtschaftswissenschafter an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich in Linz
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