Die Spaltung der Sachertorte

Die Spaltung der Sachertorte
Das Gefühl einer gesellschaftlichen Zerklüftung speist sich aus der Illusion einer ehemals homogenen Gesellschaft

„Die Menschen werden durch Gesinnungen vereinigt, durch Meinungen getrennt“, hat Goethe am, 6. Januar 1813 in einem Brief an seinen Freund Jacobi notiert. Ganz in diesem Sinne ist heute verbreitet die Rede von einer „Spaltung“ unserer Gesellschaft, die mit der Corona-Pandemie sowie insbesondere mit Impfung und Impfpflicht einen neuen Höhepunkt erreicht hat. Und in der Tat gehen hier subjektive Meinungen (die im Unterschied zu sachlichen Standpunkten keiner argumentativen Absicherung bedürfen) deutlich auseinander.

Das unreflektierte Gefühl einer gesellschaftlichen Spaltung speist sich allerdings oft aus der Illusion einer ehemals homogenen Gemeinschaft, in die nun scheinbar von außen, von oben oder von unten ein Keil getrieben wird.

Anders als beim Aufschneiden einer Torte ist dies aber unrealistisch, weil kein Mensch einer Gesellschaft (wie einem Kuchenbuffet) gegenübersteht, sondern selbst Teil dieses gesellschaftlichen Gefüges ist und weder sich noch andere Personen oder Gruppen (wie Tortenstücke) „herausschneiden“ kann.

Statt mit Trennungen haben wir es in sozialen Kontexten mit Unterscheidungen zu tun, weshalb wir ja auch verschiedene Einstellungen zu Fakten einnehmen können – ohne dadurch „die Gesellschaft zu spalten“. So gibt es Menschen, die kaum die Existenz der Sachertorte in der Kuchenvitrine hinterfragen, aber auf anderen Gebieten begründete Tatsachen in Zweifel ziehen, weil es keinen direkten Zugang zur Welt gibt, wie sie unter Verweis auf Kant (selten), auf den Konstruktivismus (manchmal) oder auf YouTube-Kanäle (häufig) erklären.

Doch übersehen sie, dass individuelle Einstellungen durch soziale Tatsachen, also institutionelle Mechanismen (wie Wissenschaft und Politik) oder ideologische Gesinnungs­gemeinschaften (wie Cliquen und Filterblasen) vermittelt sind.

Natürlich kann man auch zu diesen individuell unterschiedlich eingestellt sein – je nachdem, ob man ihnen vertraut oder misstraut. Misstrauen in Institutionen bei gleichzeitigem Vertrauen in Ideologien führt dann zu dem, was der Psychologe Roland Imhoff jüngst als „Verschwörungsmentalität“ bezeichnet.

Paradox ist, dass die Dualität gegensätzlicher Meinungen zwar als Spaltung der Gesellschaft erscheint, aber gleichzeitig „gegnerische“ Gruppen gerade durch die gegensätzliche gefühlsmäßige Gesinnung (auf dem Umweg über die Sache) indirekt aneinander bindet. So hat schon der Soziologe Georg Simmel in seinem Kapitel über den „Streit“ diesen als Herstellung von Einheit durch Differenz und „eine der lebhaftesten Wechselwirkungen“ zwischen Menschen analysiert.

Deshalb integriert die Impfpflicht, indem sie polarisiert – wenngleich durch Konfrontation, nicht durch Harmonie, wohlgemerkt. Vor allem aber sind die daran beteiligten individuellen und kollektiven Träger von Meinungen nicht einfach nur passive Opfer böswilliger Spaltung, sondern über weite Strecken eigenverantwortlich für die getroffenen Entscheidungen, beispielsweise was ihre (subjektive) Einstellung zu (objektiven) Fakten betrifft.

Paul Reinbacher arbeitet als Sozial- und Wirtschaftswissenschafter an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich.

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